Der abgesagte Geschlechter-Vortrag der Biologin Marie-Luise Vollbrecht findet nun doch statt. Was ist passiert und was bedeutet das für Wissenschaftlichkeit, Meinungsfreiheit und den gynäkologischen Berufsalltag?
Die Meldungen um den abgesagten Vortrag „Geschlecht ist nicht (Ge)schlecht, Sex, Gender und warum es in der Biologie zwei Geschlechter gibt“ von Marie-Luise Vollbrecht hat mittlerweile nahezu alle Medien erreicht. Geplant war er als einer von 50 Vorträgen im Rahmen einer Langen Nacht der Wissenschaft an der Berliner Humboldt-Universität (HU). Daneben standen Mitmach-Angebote für Familien auf dem Plan, deren Sicherheit man anlässlich des umstrittenen Vortrags in Gefahr sah.
So rief der Arbeitskreis kritischer Jurist*innen an der Humboldt Uni Berlin zu Protesten auf: Vollbrechts These, dass es in der Biologie nur zwei Geschlechter gebe, sei unwissenschaftlich, menschenverachtend sowie queer- und transfeindlich.
Daraufhin entschied sich die HU für die Absage des Vortrags der 32-jährigen Doktorandin, was Proteste von anderer Seite hervorrief. Der universitären Entscheidung wird Einknicken und Verletzung der Wissenschaftsfreiheit attestiert. Ein Überblick, was dem Ganzen vorausging.
Seit 1. Juni 2022 steht der öffentliche Aufruf Schluss mit der Falschberichterstattung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks online, der von rund 120 Initiatoren und Erstunterzeichnern, danach von über 1600 weiteren Personen unterschrieben wurde.
„Wir Wissenschaftler und Ärzte fordern den öffentlich-rechtlichen Rundfunk auf, biologische Tatsachen und wissenschaftliche Erkenntnisse wahrheitsgemäß darzustellen. Wir fordern eine Abkehr von der ideologischen Betrachtungsweise zum Thema Transsexualität und eine faktenbasierte Darstellung biologischer Sachverhalte nach dem Stand von Forschung und Wissenschaft.“
Dass es eine Vielfalt von Geschlechtern bzw. Zwischenstufen zwischen Mann und Frau gebe, sei eine Falschbehauptung. Queer-/Trans-Lobbygruppen seien der Ansicht, man könne das biologische Geschlecht wechseln, indem man sich sozial als dieses Geschlecht identifiziere. Die Zahl der wegen Geschlechtsdysphorie behandelten Kinder und Jugendlichen sei in weniger als zehn Jahren um den Faktor 25 gestiegen. Kritisch werden in diesem Zusammenhang Beiträge zum Thema in Sendung mit der Maus und Quarks gesehen.
„In TV-Sendungen, Rundfunkbeiträgen und auf den Social-Media-Kanälen des öffentlich-rechtlichen Rundfunks wird dieser Trans-Hype geschürt und es wird der ‚Weg in den richtigen Körper‘ als kinderleichter Schritt geschildert“, so die Initiatoren.
Neben Vollbrecht haben zahlreiche Wissenschaftler, Ärzte unterschiedlicher Fachrichtungen, Psychologen, Soziologen und Angehörige der verschiedensten Berufsgruppen unterschrieben. Darunter ein gynäkologischer Endokrinologe, der seit über 30 Jahren geschlechtsangleichende Hormontherapien bei transsexuellen Personen vornimmt.
Zu den Initiatoren gehört Dr. Alexander Korte, leitender Oberarzt der Kinder- und Jugendpsychiatrie der Ludwig-Maximilians-Universität München. Der Experte auf dem Gebiet der Geschlechtsdysphorie, Sexual- und Kulturwissenschaften warnt vor einer Abschaffung des Transsexuellengesetzes zu Gunsten eines von der Ampel geplanten Selbstbestimmungsgesetzes.
„Ab dem Alter von 14 Jahren soll zukünftig jeder – gegebenenfalls auch gegen den Willen der Sorgeberechtigten – denjenigen Geschlechtseintrag frei wählen können, von dem er oder sie glaubt, dass es zum subjektiven Zugehörigkeitsgefühl passt“, so Korte. Als Wissenschaftler gehe es ihm um das biologische Geschlecht (englisch: sex), dessen körperliche Merkmale in männlich oder weiblich eingeteilt werden. Es gäbe keine biologischen Prozesse, zu deren Erklärung weitere Geschlechter notwendig wären.
„Die Definition einer Vielzahl der Geschlechter (im Sinne von sozialen Geschlechtsrollen, englisch: gender) mag außerhalb des naturwissenschaftlichen Diskurses mit eigener Logik und Legitimität diskutiert werden. Wir benötigen aber keine weiteren Geschlechtskategorien, um zu erklären, warum Menschen unter Genderdysphorie leiden, deren Ursachen herauszuarbeiten und diesen Menschen zu helfen“, meint Korte. Intersexualität sei außerdem keine Widerlegung der Geschlechterbinarität, denn Zweigeschlechtlichkeit schlösse nicht aus, dass es Menschen gibt, bei denen die geschlechtlichen Strukturen nicht vollständig differenziert und damit nicht eindeutig sind.
Als Kinder- und Jugendpsychiater, der seit 2004 Betroffene mit Geschlechtsdysphorie begleitet, kenne er viele Fälle von „im falschen Körper leben müssen“, deren Ursache sich später als verdrängte Homosexualität erweist. „Wir können den Betroffenen helfen, ihre Homosexualität zu erkennen, zuzulassen und ein selbstbestimmtes, auch sexuell erfülltes Leben zu führen.“ Würde eine frühzeitige pubertätsblockierende Therapie erfolgen, hätte das fatale Folgen für das Wohlergehen der betroffenen Person.
Die Anzahl der sich gegengeschlechtlich identifizierenden Jugendlichen sei in den letzten Jahren dramatisch gestiegen. In mehr als 80 Prozent der Fälle handele es sich um biologische Mädchen, die oft im Rahmen einer pubertären Krise besonders unter gesellschaftlichen Erwartungszwängen litten.
Mittlerweile ist der abgesagte Vortrag als Aufzeichnung online und mehr als 118.000 mal aufgerufen worden. Vergleicht man den Inhalt und die Wirkung der Absage, würde man, gelinde gesagt, von einer enormen Diskrepanz sprechen. Evolutionsbiologisch hergeleitet gebe es nur zwei Geschlechter und biologisches und soziales Geschlecht seien unterschiedliche Dinge, so Vollbrecht. Die Thematik versetzt einen zurück in die Vorlesungen der Vorklinik.
Stattdessen hat die Absage den öffentlichen Aufruf der Wissenschaftler erst ins Rampenlicht gerückt und einen neuen Diskurs über Meinungs- und Wissenschaftsfreiheit entfacht. Kritik kommt vom Präsidenten des Deutschen Hochschulverbandes, Bernhard Kempen: „Sie hätten stattdessen Rückgrat beweisen sollen und alles daransetzen, dass der Vortrag stattfinden kann.“ Deniz Yücel, Journalist und Mitbegründer der Schriftstellervereinigung PEN Berlin, twitterte: „Die Absage des Vortrags von Marie-Luise Vollbrecht durch die Humboldt Uni ist erbärmlich feige; die Einschränkung der Wissenschaftsfreiheit inakzeptabel.“
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Transsexualität ist definiert als die andauernde Gewissheit, dem anderen Geschlecht zugehörig zu sein, welches nicht dem ursprünglichen biologischen Geschlecht entspricht. Die Schritte auf dem Weg zum anderen Geschlecht umfassen eine Kaskade aus Selbstfindung, Information, Gutachten, Kostenübernahmeanträge, Personenstandsänderung, geschlechtsangleichende Hormontherapie und Operation.
Im gynäkologischen Praxisalltag werden vorwiegend Transmänner betreut, die als Mädchen geboren, sich aber dem männlichen Geschlecht zugehörig fühlen und bei denen noch keine geschlechtsangleichende Operation stattgefunden hat. Solange sollten noch die üblichen Vorsorgeuntersuchungen stattfinden. Angefangen von der Situation als Mann im Wartezimmer einer Frauenarztpraxis bis zur belastenden körperlichen Untersuchung, bedarf diese spezielle Situation viel Einfühlungsvermögen.
Die geschlechtsangleichende Hormontherapie bei Transsexualität erfolgt in einer endokrinologischen Sprechstunde mit anschließender Vorstellung zur Operation.
Die Kommunikation über biologische und gesellschaftliche Geschlechteraspekte scheint sich in einer Schieflage zu befinden. Die Fronten sind verhärtet, einander wird Unwissenschaftlichkeit und Menschenverachtung vorgeworfen. Beides ist weder lösungsorientierend noch richtig.
Bei der kritischen Stellungnahme von Experten zur Änderung des Transsexuellengesetzes geht es auch um das Wohl und den Schutz von Minderjährigen vor irreparablen Schäden. Bei aller Vielfalt von Meinungen und Überzeugungen darf eines nicht auf der Strecke bleiben: die persönliche Freiheit.
„Eine liberale, säkulare Gesellschaft kann viele unterschiedliche Glaubenssysteme aufnehmen, auch sich widersprechende. Was sie jedoch nie tun darf, ist, die Überzeugungen einer Gruppe allen anderen aufzuzwingen. Es geht also auch um die Freiheit des Gewissens, der persönlichen Meinungsäußerung und nicht zuletzt die der Wissenschaft“, resümiert Alexander Korte die entfachte Diskussion.
Der Vortag von Marie-Luise Vollbrecht soll nun morgen, am 14. Juli 2022, doch stattfinden.
Bildquelle: Brian Wangenheim, unsplash