So langsam kommen Migränetherapeuten in Erklärungsnot. Denn trotz guter Wirksamkeit und Compliance bestimmt der G-BA, dass Ärzte Erenumab erst nach langjähriger Vortherapie geben dürfen. Was ich von dieser Evidenzbürokratie halte.
Antikörper gegen das Calcitonin Gene-Related Peptide (CGRP) oder gegen dessen Rezeptor haben die Migräneprophylaxe revolutioniert. Schwer betroffene Patienten, die kaum noch unter Menschen gingen, entdecken das Sozialleben wieder. Manche rutschen gar nach Beginn der CGRP-Antikörper-Behandlung in ein Alkoholproblem hinein: Sie können, in vielen Fällen erstmals seit Jahrzehnten, wieder Alkohol in größeren Mengen konsumieren, ohne dass die Migräne die Sünde sofort bestraft. Zwar sprechen längst nicht alle Patienten in der Anfallsprophylaxe auf die Anti-CGRP-Therapie an. Diejenigen aber, die darauf ansprechen, tun das sehr gut – auch langfristig über Jahre.
Neben anekdotischer Evidenz gibt es für die Anti-CGRP-Therapien natürlich auch Studienevidenz – gute Studienevidenz. So gute, dass sie im Prinzip auch IQWiG und G-BA überzeugt. Der CGRP-Antikörper Erenumab ist das am längsten erhältliche Anti-CGRP-Medikament und als solches regulatorisch ein Vorreiter. 2018 brachte Novartis den Antikörper auf den deutschen Markt. Schon 2019 fand der G-BA im Erenumab Nutzenbewertungsverfahren einen Anhaltspunkt für einen beträchtlichen Zusatznutzen im Vergleich zu Placebo. Zugrunde lagen die beiden placebokontrollierten Phase-III-Studien ARISE und STRIVE, in denen der subkutan zu applizierende Antikörper die monatlichen Tage mit Migräneattacken von 8 um im Mittel 3 bis 4 reduzierte, doppelt so stark wie Placebo.
In Deutschland gab es dann noch die Besonderheit der Phase-IIIb-Studie LIBERTY, in der Patienten mit 4 bis 14 Migränetagen pro Monat untersucht wurden, bei denen vorher schon 2 bis 4 andere Prophylaxen erfolgslos ausprobiert worden waren. Zu nennen sind hier Topiramat, Metoprolol, Propanolol, Valproat, Flunarizin, Amitriptylin und Botulinumtoxin. Alles nichts, was man unbedingt einnehmen bzw. sich spritzen will. Dennoch hat der G-BA die Vortherapien in seinen Beschluss integriert bzw. gründet seinen Beschluss wesentlich darauf. Die Folge: Wer in Deutschland als Migränepatient eine Anti-CGRP-Therapie erhalten will, muss erst einmal ein ganzes Spektrum an anderen prophylaktischen Therapien durchlaufen. Eine oder auch zwei Vortherapien reichen laut G-BA nicht. Je nachdem, wie ernst die behandelnden Ärzte es nehmen, kann das dann schon mal zwei Jahre dauern. Denn eine Prophylaxe braucht Zeit, bis sie beurteilt werden kann.
Anfangs ließ sich das deutsche Zögern noch mit der unklaren Langzeitverträglichkeit begründen. Das allerdings wird mit jedem Jahr schwieriger. Bei den älteren Vertretern der nicht mehr ganz so neuen Substanzklasse gibt es mittlerweile Sicherheitsdaten über fünf Jahre und länger. Im Herbst 2021 wurde es dann nochmal etwas schwieriger für die institutionellen Bedenkenträger: Denn die Fachzeitschrift Cephalgia publizierte die von Uwe Reuter, Charité Berlin, geleitete, randomisierte Head-to-Head-Studie HER-MES, in der Prophylaxen mit Erenumab einerseits und Topiramat anderseits bei 777 Patienten mit zunächst nur episodischer, später dann auch chronischer Migräne mit und ohne Aura direkt verglichen wurden.
Für Topiramat war diese Studie ein Waterloo. 31 % der Topiramat-Patienten erreicht eine mindestens 50 %ige Reduktion der monatlichen Migränetage. Bei Erenumab waren es dagegen 55 %. Das eigentliche Problem aus Sicht von Topiramat war aber die Verträglichkeit: Nur rund 10 % setzten Erenumab wegen unerwünschter Ereignisse frühzeitig ab. Bei Topiramat waren es fast viermal so viele. Der G-BA und seine Fans hatten damit ein akutes Problem: Wer sich nach den Gralshütern der evidenzbasierten Erstattung à la Deutschland richtete, der ballerte seinen Patienten erstmal mit einem Medikament voll, von dem jetzt gezeigt war, dass es nicht nur schlechter wirkte, sondern auch noch deutlich schlechter verträglich war.
IQWiG und G-BA blieb an dieser Stelle nichts anderes übrig, als zu reagieren – und sie reagierten. In seiner unnachahmlich verquasten Sprache rang sich das IQWiG in seiner aktualisierten Nutzenbewertung vom August 2021 zu einem „Hinweis auf einen nicht quantifizierbaren, mindestens beträchtlichen Zusatznutzen“ im Vergleich zu zweckmäßigen Vergleichstherapien (ZVT) durch, wobei in der Liste der ZVT das Topiramat gefettet wird, weil es das getestete Vergleichsmedikament war, nicht aber die anderen vier oder fünf ZVT. Entsprechend wurde dann auch eine Einschränkung für den deutschen Versorgungskontext hinterhergeschoben. Es sei „unklar, wie groß der Einfluss auf die entsprechenden Effekte von Erenumab im Vergleich zur zweckmäßigen Vergleichstherapie wäre, wenn die Patientinnen und Patienten, die die Therapie abbrachen, eine Folgetherapie erhalten hätten.“
Mit anderen Worten: Vielleicht wäre der CGRP-Antikörper gar nicht so viel besser gewesen, wenn die Patienten statt nur einer schlecht verträglichen Vortherapie über ein paar Monate vier oder fünf schlecht verträgliche Vortherapien über ein paar Jahre erhalten hätten. Das Ganze ist dermaßen absurd, dass man lachen könnte, wenn es für manche Patienten nicht bitterer Ernst wäre.
Man muss diesen hier etwas länglich ausgebreiteten Hintergrund kennen, um die APPRAISE-Studie bewerten zu können, die vor zwei Wochen beim Kongress der European Association of Neurology (EAN) vorgestellt wurde. Die APPRAISE-Studie ist eine weitere, randomisierte, diesmal nicht rein deutsche, sondern globale Phase IV Studie, in der Erenumab bei 621 erwachsenen Patienten mit episodischer Migräne, die bereits ein bis zwei erfolglose Vortherapien über sich ergehen hatten lassen, mit „Standard of Care“ verglichen wurde, also mit (unterschiedlichen, je nach Vortherapie und Behandlungskontext bzw. lokalen Empfehlungen) anderen Prophylaktika.
Primärer Endpunkt war erneut Reduktion der Migränetage um 50 % oder mehr. Erenumab gelang das bei 56 % der Patienten, bei „Standard of Care“ waren es nur 17 %. Mehr noch: Die Adhärenz über 12 Monate lag bei 87 % gegenüber 38 %, und eine signifikante Verbesserung in der PGIC-Selbstbewertung erreichten 76 % der Erenumab-Patienten, aber nur 19% der Standard-of-Care-Patienten. Es bedarf nicht viel Fantasie, um zu erkennen, dass die deutsche Evidenzbürokratie durch APPRAISE noch weiter in die Defensive geraten wird.
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