Selbstverletzendes Verhalten und suizidale Gedanken sind schwerwiegende Warnsignale. Worauf Ärzte achten müssen – und was ihr tun könnt, wenn ihr diese Verhaltensweisen bei euren Patienten bemerkt.
Suizidale Gedanken und selbstverletzendes Verhalten sind wesentlich breiter in der Gesellschaft verankert, als man denken würde. Im weltweiten Vergleich steht Suizid auf Platz 18 der häufigsten Todesursachen. WHO-Daten weisen darauf hin, dass jährlich rund 800.000 Menschen durch Suizid versterben und dementsprechend häufig sind auch Suizidversuche.
Auch in Deutschland nehmen die Suizide unter Jugendlichen zu. Eine groß angelegte UNICEF-Studie ergab: Jeder vierte junge Deutsche im Alter von 15–24 Jahren fühlt sich deprimiert. Im Durchschnitt befürworten 83 % der betroffenen Jugendlichen, Hilfe von außen anzunehmen. Im Gegensatz dazu empfanden nur 15 % der Befragten, dass solche Probleme persönliche Angelegenheit seien und allein bewältigt werden sollten. Insgesamt unterschied sich diese Einstellung kaum zwischen den Generationen. Durchschnittlich befürworteten 4 von 5 Erwachsenen (> 40 Jahre alt), über Mental Health zu sprechen, sei wichtig.
Doch zeigt der Bericht hier einen interessanten Unterschied zwischen Deutschland und den restlichen befragten Ländern: Hierzulande ist die Generationslücke deutlich größer. Weitere Ausnahmen sind Japan und die Ukraine. Hier verzeichnet die UNICEF-Studie einen erheblichen Unterschied von mindesten 14 Prozentpunkten zwischen den Generationen. Deutsche Erwachsene vertreten also deutlich häufiger die Meinung, Mental Health sei im Privaten zu klären – Hilfe zu suchen wäre keine Option. Angesichts aktueller Suizid-Statistiken ist diese Haltung allerdings alarmierend. „Fast 46.000 junge Menschen nehmen sich jährlich das Leben. In der Altersgruppe der 15- bis 19-Jährigen gehört Suizid zu den häufigsten Todesursachen“, erklärt Zeinab Hijazi, Co-Autorin der UNICEF-Studie.
Beide Verhaltensweisen gelten als eindeutige Warnsignale für Suizid-Absichten. Doch das muss nicht immer der treibende Gedanke dahinter sein. Eine groß angelegte Metaanalyse hat nun einen anderen Aspekt von selbstverletzendem Verhalten untersucht und kam zu dem Schluss, dass Menschen, die sich selbst verletzen und an Suizid denken, mit diesem Verhalten Stress abbauen. In der Studie heißt es: „Die Ergebnisse dieser Metaanalyse deuten darauf hin, dass die Hypothese der Affektregulierung bei der Aufrechterhaltung von SITBs (self-injurious thoughts and behaviors oder SVV, selbstverletzendes Verhalten) weitgehend unterstützt wird, so dass der negative Affekt vor NSSI-Verhaltensweisen (Nonsuicidal self-injury oder NSSV, nicht-suizidales selbstverletzendes Verhalten) und Suizidgedanken im Allgemeinen höher ist und nach allen SITBs eine mäßige bis starke Verringerung aufweist.“
Die Wissenschaftler geben an, dass die in der Analyse beinhalteten Studien sehr heterogen waren und dementsprechenden Anpassungen unterlagen. Außerdem waren erwachsene weiße Frauen proportional überrepräsentiert. Dementsprechend könnte die Analyse für sämtliche andere Personengruppen nicht repräsentativ sein.
Ein systematisches Review von Forschern des Observatory on Eating Disorders der University of Campania, Italien, bestätigt allerdings die Ergebnisse der Metaanalyse. In der Studie heißt es, dass die „häufigste Funktion von NSSI die Affektregulierung zu sein scheint“. Negative Emotionen „treten in der Regel vor dem NSSI-Verhalten auf, wohingegen eine Zunahme positiver sowie eine Abnahme negativer Gefühle dem selbstverletzenden Verhalten folgen“.
Zudem konnten in den letzten Jahren falsche Annahmen zu NSSI revidiert werden, wie beispielsweise, dass selbstverletzendes Verhalten hauptsächlich als Teil der Borderline Persönlichkeitsstörung auftreten würde. Außerdem „ist deutlich geworden, dass NSSI nur selten aufmerksamkeitsbezogen ist. Stattdessen wird NSSI meist im Privaten durchgeführt, um intensive negative Gefühle schnell zu lindern“, so Dr. David Klonsky, Professor am Department of Psychology an der University of British Columbia in Kanada.
Suizidgedanken und selbstverletzendes Verhalten nehmen zu und die Hintergründe – wie Stressbewältigung – sind vielseitig. Über Mental Health und psychische Probleme zu sprechen, besonders auch im Patientenkontakt, ist deswegen essenziell. Viele der durch den in Deutschland verbreiteten Generationenkonflikt gängigen Störungsbilder und Problemfelder junger Erwachsener könnten früher erkannt und behandelt werden. So könnten auch das Erkennen und die Einordnung selbstverletzenden Verhaltens und suizidaler Gedanken bereits in der Hausarztpraxis beginnen. Die Erkenntnisse der vergangenen Jahre bilden eine gute Grundlage für Präventions- und Interventionsmaßnahmen.
Generell gilt: Jede Form von selbstverletzendem Verhalten ist ernst zu nehmen und sollte immer professionell abgeklärt werden. Seit 1999 ist dafür auch keine dezidierte Überweisung mehr notwendig. Die Patienten können sich direkt an den – im besten Fall vom Hausarzt empfohlenen – Therapeuten wenden. „Es ist immer von Vorteil, mit einer psychotherapeutischen Praxis auf kurzem Weg zusammenzuarbeiten. Dann kann man auch mal über ein Telefonat abklären, dass sich gleich ein Patient melden wird“, erklärt Psychotherapeut Dr. Ahmed El-Kordi.
„Hausärzte müssen in erster Linie entscheiden, wie viel Zeit und Expertise sie selbst in der Behandlung aufwenden können“, so El-Kordi. „So heißen tiefe Wunden nicht zwangsläufig, dass es sich um einen möglichen Suizidversuch handelte – diese Absicht ist eher aus den Wundmustern abzuleiten. Wichtig dabei: Ist die selbstverletzende Handlung einmalig geschehen oder geschieht sie habituell? Gibt es geschwulstige Narbenränder? Wurde an anatomisch vitalen Stellen geschnitten, sind die Verletzungen nur an gut erreichbaren Stellen oder auch an schwer zu erreichenden Körperstellen vorhanden?“ Das seien die ersten Fragen, die Hausärzte sich und ihren Patienten stellen sollten.
Ein besonders heikles Thema: Verletzungen am und im Intimbereich. Sollte ein Geschlechtsunterschied zwischen Arzt und Patient bestehen, könne man zur Inspektion der Wunden auch einen anderen Mitarbeiter der Praxis hinzuziehen, sofern das für den Patienten angenehmer ist. „Verletzungen im Intimbereich können natürlich auf sexuellen Missbrauch hinweisen, selbstzugezogene Verletzungen in diesen Bereichen sind aber oft Anzeichen für körperdysmorphe oder Körperbildstörungen“, erklärt El-Kordi.
Bei habituellen Selbstverletzungen sei besonders darauf zu achten, dass der initiale Schmerz schnell seinen Charakter verliert. Patienten haben daher oftmals eine geringere Hemmschwelle zum Suizid(versuch) und müssen besonders ernst genommen werden. Andererseits gibt es ebenso Patienten, die sich zum Spannungsabbau selbst verletzen und nie den weiteren Schritt in Richtung Selbsttötung gehen würden. Hier ist eine Abklärung der Absichten wichtig, so El-Kordi. „Fragt die Patienten, mit welchem Gedanken sie sich selbst verletzen. Haben sie dabei daran gedacht, sich konkret das Leben zu nehmen oder wollten sie den aktuellen emotionalen Zustand beenden?“ Bei bekannten Vorerkrankungen wie Depression oder einer Bipolaren Störung ist besondere Vorsicht bei suizidalen Tendenzen geboten.
Es gibt klare Richtlinien, an die sich Hausärzte im Umgang mit Patienten, die selbstverletzendes Verhalten oder Suizidgedanken zeigen, halten können:
„Nicht immer muss es eine lange Therapie sein. Vielen Patienten ist schon mit kurzen Sitzungen geholfen. Dennoch ist keine Form von selbstverletzendem Verhalten harmlos und muss in jedem Fall fachlich abgeklärt werden – auch, wenn die Hintergründe vielleicht banal erscheinen mögen“, so El-Kordi.
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