Die Wut der niedergelassenen Ärzte sitzt tief – und das liegt nicht allein am neuen Finanzierungsplan für die GKV. Das Ende der Neupatientenregelung ist jedenfalls nah.
Schon lange war die Stimmung bei den niedergelassenen Ärzten nicht mehr so schlecht wie im Moment. Sind dafür nur die aktuellen Einsparpläne verantwortlich? Oder woran liegt es, dass die ambulanten Ärzte gerade so richtig auf die Barrikaden steigen?
Der unmittelbare Anlass für den aktuellen Unmut ist klar: Mit dem Entwurf des GKV-Finanzstabilisierungsgesetzes (GKV-FinStG) soll für ambulante Ärzte der gesamte Passus der Neupatientenregelung, wie sie im Terminservice- und Vorsorgegesetz (TSVG) geregelt ist, wegfallen (wir berichteten). Die ambulanten Ärzte betrachten das als Affront – insbesondere da der Minister sich überall selbst dafür lobt, das Loch im GKV-Haushalt ohne Leistungskürzungen zu stopfen. Selbstbeweihräucherung auf dem Rücken der Ärzteschaft – das ist das, was bei vielen an der Basis ankommt.
Die Reaktionen sind entsprechend saftig: „Das werden wir nicht auf uns sitzen lassen. Wir werden uns gegen diese Streichung wehren. Wir werden unsere Praxen schließen, wenn unser Budget ausgeschöpft ist. Und wir werden keine neuen Patienten mehr aufnehmen“, formuliert Dr. Christiane Wessel, Vorsitzende der KV Berlin, die de facto-Leistungskürzung für Patienten.
Beim Spitzenverband der Fachärzteschaft (SpiFa) klingt das ähnlich: Dort wird den Ärzten ziemlich unverblümt geraten, die als TSVG-Folge erhöhten Sprechstundenzeiten wieder zu kürzen. Worte wie „Vertragsbruch“ sind zu hören, auch wenn ein Gesetz natürlich kein Vertrag ist.
Letztlich bringt das GKV-FinStG das Fass aber nur zum Überlaufen. Es gärt schon länger, und ein wesentlicher Punkt dabei ist das digitale Desaster im deutschen Gesundheitswesen.
Die Wurzel der ambulanten Digitalisierungskatastrophe ist die Zahl an hoffnungslos veralteten und mit den modernen Anforderungen schlicht überforderten Praxis-IT-Systemen. Festmachen tut sich der Unmut im Moment freilich eher an der Telematikinfrastruktur (TI). Der Virchowbund würde sie am liebsten komplett beerdigen: „Die TI ist gescheitert. Sie ist ein Ladenhüter, der nicht nur keinen Nutzen hat, sondern sogar Schaden bringt. Wir brauchen ein Moratorium, um das Projekt abzuwickeln und zu begraben. Danach braucht es etwas innovatives Neues und nicht einen mit Zwangsgeldern durchgesetzten Müll“, fasst Virchowbund-Vorsitzender Dr. Dirk Heinrich den Unmut vieler Kollegen zusammen.
Seitens der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV), als gematik-Gesellschafterin und in einigen Bereichen federführende Projektleiterin mitverantwortlich für die TI, klingt das etwas weniger radikal, aber der Frust ist auch hier unüberhörbar: „Das Handling, die Zuverlässigkeit und Funktionalität der Telematik-Infrastruktur ist zurzeit noch ein Problem. In Richtung einer zuverlässigen und bedienerfreundlichen Datenautobahn ist noch weiter Weg zurück zu legen. Gleichzeitig zeigt die Flut an Innovationen, an sinnvollen Einzelanwendungen, dass die Digitalisierung Chancen mit sich bringt“, so Dr. Bernhard Gibis, Dezernent Versorgungsmanagement bei der KBV. Das bestreitet auch niemand.
Allein: Aufgrund der Gesamtkonstellation aus Uralt-IT und hohen Vernetzungsanforderungen kommt davon in den Praxen kaum etwas an. Jedes zweite Digitalisierungsprojekt bedeutet mehr Dokumentation, nicht weniger. Dass das Faxgerät in vielen Konstellationen immer noch die bürokratieärmste und ausfallsicherste Kommunikationsoption in der ambulanten Medizin ist, sagt eigentlich alles.
Und nun? „Wir erwarten von der Politik funktionierende Lösungen und Stabilisierung. Die TI ist letztes Jahr 1.000 Stunden ausgefallen. Solche Systeme könnte man in der freien Wirtschaft gar nicht verkaufen“, so Heinrich, und er bringt anschaulich auf den Punkt, wo es hakt: „Eine eAU, die für die interne Prüfung der Sicherheitszertifikate 55 Sekunden braucht und damit den PC so belegt, dass ich nichts anderes in der Zeit machen kann, ist für mich eine Totgeburt. Ein E-Rezept, das 20 Sekunden braucht, ebenso. Wenn ein Patient nun 2 Rezepte und eine AU braucht, bin ich am PC 2 Minuten nicht handlungsfähig. Das ist unzumutbar – vor allem, wenn ich das auf zig Patienten am Tag hochrechne.“
Auf politischer Seite hat man manchmal den Eindruck, dass der akute Handlungsbedarf in Sachen IT noch gar nicht so richtig gesehen wird. Selbst Dr. Andrew Ullmann, gesundheitspolitischer Sprecher der ärzteschaftnahen FDP, klingt im Gespräch mit den DocCheck News eher abwiegelnd: „Wir haben in der Ampel-Koalition gemeinsam mit dem Bundesgesundheitsminister eine Vorhaben-Liste aufgestellt. Zunächst müssen die GKV-Finanzen Priorität genießen, schließlich ist das Problem sehr zeitkritisch. Wir werden anschließend noch Vorhaben zu den Themen Pflege, Digitalisierung und Cannabis präsentieren. Aber im Grundsatz haben Sie Recht, weil viele Strukturen im Gesundheitswesen reformbedürftig sind, haben wir uns viel vorgenommen.” Cannabis vor Digitalisierung? Im Ernst?
Der dritte Aufreger ist ein Dauerläufer: Personalmangel. Je weniger Digitalisierung funktioniert, umso mehr Personal ist nötig, vor allem auf dem Land und in strukturschwachen Regionen.
Beim Virchowbund will man das Problem durch Masse lösen: „Wir brauchen mehr Medizinstudierende“, so Heinrich. „Das sagen wir seit 2010. Hätte man damals auf uns gehört, wären nun die ersten Ärztinnen und Ärzte in der Versorgung angekommen und würden die aufkommende Lücke schließen. Nun steuern wir in eine fatale Situation, in der dann auf internationale Anwerbersysteme gesetzt wird. Ärzte aus dem Ausland zu uns abzuwerben, halte ich jedoch für ausgesprochen unsolidarisch und in größtem Maße für ungerecht. Das würde ich mir an Stelle des betroffenen Landes auch nicht bieten lassen.“
In punkto mehr Studierende haben die Ärzte durchaus das Ohr von Karl Lauterbach, der hier in einigen Reden schon wilde Versprechungen gemacht hat – ohne freilich zu verraten, wie er das finanzieren will.
Letztlich sind sich die ambulanten Ärzte einig – es ist so viel zu tun, dass man längst nicht mehr alles in einer einzigen großen Reform lösen kann. „Wichtig ist, dass der Gesamtprozess reibungslos funktioniert - zum Beispiel bei Verordnungen, von der Ausstellung, der Übermittlung bis zur Weiterverarbeitung. Nur dann findet die Digitalisierung Akzeptanz und schafft Mehrwerte. Wir müssen in ständigem Austausch stehen, die Kommunikation verbessern. Die Politik sollte in erster Linie den Rahmen definieren und den Rest der fachlichen Seite überlassen. Vielleicht haben wir dann in 5 Jahren bessere Standards und ein zufriedenstellendes System“, resümiert KBV-Dezernent Gibis.
Dass die Versorgung derzeit in Deutschland oftmals an ihre Grenzen stößt und immer weniger Ärzte für immer mehr Patienten da sein müssen, ist jedoch nicht ausschließlich gesundheitspolitisches Versagen. So sind die steigenden Patientenzahlen mitunter auch ein gesellschaftliches Phänomen, dessen man in den Praxen möglicherweise auch mit gesellschaftlichen Anreizen bzw. Hemmschwellen begegnen muss.
Wie dies von Seiten der Niedergelassenen funktionieren kann, stellt sich Dr. Heinrich wie folgt vor: „ Es muss ein Verständnis für den eigenen Verbrauch von Ressourcen im Gesundheitswesen entstehen und die Menschen müssen lernen, mit diesen Ressourcen sorgsam umzugehen. Was die hohe Zahl an versäumten Terminen angeht, fordert der Virchowbund schon lange eine Strafgebühr für ‚Terminschwänzer‘. Wenn Menschen anderen Menschen Termine wegnehmen und das sorglos stehenlassen, ist das unsozial. Mit einer Gebühr von 50 Euro würde sich das jeder zweimal überlegen. So würde sich ein Lerneffekt einstellen.“
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