Bei Menschen ist die Geburt schwieriger und schmerzhafter als bei Menschenaffen. Der Grund wurde im großen Gehirn und dem engen Becken verortet. Jetzt kam raus: Die gleichen Probleme gab es schon bei den Vormenschen – trotz kleinem Gehirn.
Um den engen Geburtskanal zu passieren, muss der menschliche Fetus komplexe Drehbewegungen und Biegungen durchführen. Verbunden ist das mit einem hohen Risiko für Geburtskomplikationen bis hin zu einem Geburtsstillstand und dem Tod von Mutter und Kind. Die gängige Erklärung für diese Geburtsschwierigkeiten ist, dass sie die Folge eines Konflikts zwischen den Anpassungen an einen effizienten aufrechten Gang sowie an unser großes Gehirn seien.
Der aufrechte Gang entstand vor etwa sieben Millionen Jahren und führte zu einer tiefgreifenden Umgestaltung des Beckens mit einem verkürzten Abstand zwischen Hüftgelenk und Kreuzbein. Die enorme Zunahme der Hirngröße erfolgte jedoch erst vor zwei Millionen Jahren, als die frühesten Vertreter der Gattung Homo auftauchten. Das Dilemma, das durch die beiden gegensätzlichen Selektionsdrücke entstand, löste die Evolution durch die Geburt von neurologisch unterentwickelten, hilflosen Neugeborenen mit einer relativ kleinen Gehirngröße. Wir Menschen werden deshalb auch als ‚sekundäre Nesthocker‘ bezeichnet.
Die Forschungsgruppe um Martin Häusler vom Institut für Evolutionäre Medizin der Universität Zürich (UZH) und das Team von Pierre Frémondière von der Université Aix-Marseille zeigen nun, dass verglichen mit den Menschenaffen, die Geburt bereits bei den Australopithecinen vor zwei bis vier Millionen Jahren schwierig war. „Vormenschen wie Lucy sind ideal, um die Effekte der unterschiedlichen evolutiven Kräfte zu untersuchen: Sie besaßen noch ein relativ kleines, affenähnliches Gehirn, ihr Becken wies aber bereits deutliche Anpassungen an den aufrechten Gang auf“, sagt Häusler.
Gelungen ist den Forschern der Nachweis mit Hilfe von dreidimensionalen Computer-Simulationen. Da keine Fossilien von neugeboren Australopithecinen erhalten sind, simulierten sie die Geburt mit verschiedenen Fetuskopfgrößen, um die gesamte mögliche Variationsbreite abzudecken. Für jede Art steht die Gehirngröße der Neugeborenen in einem typischen Verhältnis zur Gehirngröße der Erwachsenen. Basierend auf dem Verhältnis von nichtmenschlichen Primaten und der Hirngröße eines durchschnittlichen erwachsenen Australopithecus berechneten die Forscher die mittlere Gehirngröße der Neugeborenen auf 180 g. Gemäß dem menschlichen Verhältnis entspräche dies einer Größe von 110 g.
Geburtssimulation von Lucy (Australopithecus afarensis) mit drei unterschiedlich großen Fetuskopfgrößen. Nur eine Gehirngröße von maximal 30 Prozent der Erwachsenengröße (rechts) passt durch den Geburtskanal. Credit: Martin Häusler, UZH
Für die 3D-Geburtssimulationen berücksichtigten die Forscher die durch die Schwangerschaft erhöhte Beweglichkeit der Beckengelenke und ermittelten eine realistische Dicke der Weichteile. Das Resultat: Eine problemlose Passage ist nur bei einem Fetuskopf von 110 g, nicht aber bei 180 g oder einer Zwischengröße von 145 g möglich. „Das bedeutet, dass die Australopithecus-Babys bei der Geburt ähnlich neurologisch unterentwickelt und auf Hilfe angewiesen waren, wie die Menschenbabys heutzutage“, so Häusler.
Aus diesem Grund praktizierten wahrscheinlich bereits die Australopithecinen eine Form der gemeinsamen Aufzucht des Nachwuchses. Verglichen mit Menschaffen konnte das kindliche Gehirn länger außerhalb der Gebärmutter wachsen und die Neugeborenen so länger von anderen Gruppenmitgliedern lernen. „Diese ausgedehntere Lernphase wird gemeinhin als entscheidender Faktor für die kognitive und kulturelle Entwicklung des Menschen angesehen“, sagt Häusler.
Auch archäologische Funde untermauern die Theorie: Die ältesten, auf 3,3 Millionen Jahre datierten Steinwerkzeuge stammen aus einer Zeit, als es nur Australopithecinen und noch keine Vertreter der Gattung Homo gab.
Dieser Beitrag basiert auf einer Pressemitteilung der Universität Zürich. Zur Originalpublikation kommt ihr hier.
Bildquelle: Simon Infanger, unsplash