Herkunft und Ursache zahlreicher Krebserkrankungen lassen sich nach heutigem Kenntnisstand nur unzureichend erklären. Ein Forscherduo der Johns Hopkins University hat kontrovers diskutierte Erkenntnisse geliefert: Pech spielt demnach eine zentrale Rolle für die Karzinogenese.
Die Erkrankung an einer bösartigen Geschwulst stellt für viele Betroffene nach wie vor ein Stigma dar. Oftmals führen die ersten Gedanken nach einer Krebsdiagnose zur Frage nach dem „Warum?“. Und das sei eine absolut berechtigte Frage, findet Dr. Bert Vogelstein, Direktor des Ludwig Centers for Cancer Genetics and Therapeutics der Johns Hopkins University School of Medicine in Baltimore. Zur Ergründung dieser Frage verglich Vogelstein gemeinsam mit Dr. Cristian Tomasetti, einem Biomathematiker und Assistenzprofessor für Onkologie der gleichen Hochschule, die Teilungshäufigkeit von Stammzellen mit dem Lebenszeitrisiko der dazugehörigen Krebserkrankung. Dabei stießen sie auf einen signifikanten Zusammenhang, demzufolge sich knapp zwei Drittel des Krebsrisikos auf stochastische Effekte als wesentliche Einflussgröße zurückführen ließen. In ihrer Publikation sprechen die beiden Autoren daher von „Pech“ als wichtigem ätiologischem Faktor bei der Mehrzahl der Krebserkrankungen. „Alle Krebsarten werden von einer Kombination aus Pech, der Umwelt und der Vererbung verursacht, und wir haben ein Modell geschaffen, dass dabei behilflich sein kann, herauszufinden, wie viel diese drei Faktoren zur Krebsentstehung beitragen“, sagt Vogelstein.
Dass sich längst nicht jeder Krebs mit dem Einfluss von Umweltfaktoren und der Vererbung hinreichend erklären lässt, nahmen Vogelstein und Tomasetti zum Anlass für ihre Studie. Zu diesem Zweck schuf das Duo ein mathematisches Modell, welches auf der Beobachtung basiert, dass selbst die gleichen Risikofaktoren bei zwei verschiedenen Zellverbänden zu unterschiedlichen Krebsinzidenzen führten. Beispielsweise treten Basaliome erheblich häufiger als Maligne Melanome auf, obwohl beide mit der schädlichen Wirkung der UV-Strahlung in Verbindung gebracht werden. Und Dickdarmkrebs übersteige die Zahl der Fälle von Dünndarmkrebs auch dann bei Weitem, wenn das gesamte Intestinum aufgrund eines FAP-Syndroms einem höheren Krebsrisiko ausgesetzt ist. Da die endogene Mutationsrate aller menschlichen Zellen vergleichbar sei, müsse stattdessen die Teilungsrate der Stammzellen verschiedener Gewebe in quantitativem Zusammenhang mit dem Krebsrisiko stehen. Es bestehe bereits ein Ausgangsrisiko darin, ein Lebewesen zu sein, dessen Zellen sich teilen müssen, betont Martin Nowak, Direktor des Program for Evolutionary Dynamics an der Harvard University und ehemaliger Mitarbeiter von Vogelstein und Tomasetti. Dass die Zellteilung eine besonders vulnerable Phase hinsichtlich DNA-Schäden und Mutationen darstellt, gehört zu den modernen Dogmen der Medizin – bereits in einer 1906 veröffentlichten Beschreibung der Strahlenwirkung festgehalten, besitzt diese Erkenntnis noch heute als das „Gesetz von Bergonié und Tribondeau“ große Relevanz.
Für ihr Modell recherchierten Vogelstein und Tomasetti daher Daten zur Stammzellteilung von insgesamt 31 Geweben und stellten sie dem Entartungsrisiko in einem simplen zweidimensionalen Koordinatensystem gegenüber. „Unsere Studie zeigt im Allgemeinen, dass eine Zunahme der Zahl der Stammzellteilungen eines Gewebetyps stark mit einer Zunahme der Krebsinzidenz des entsprechenden Gewebes korreliert“, erklärt Vogelstein. Umgerechnet in eine Prozentangabe ließen sich demzufolge 65 Prozent der Variabilität der Krebsinzidenz auf unterschiedliche Stammzellteilungsraten des Ursprungsgewebes und damit einhergehende Häufungen stochastischer Effekte zurückführen. Dazu passend scheinen nur bei 9 der 31 untersuchten Krebsarten Umwelt- und Erbfaktoren eine größere Rolle zu spielen: „Wir fanden heraus, dass die Krebsarten, deren Risiko höher lag als die Zahl der Stammzellteilungen es vorhersagte, genau diejenigen waren, die man erwarten würde“, verrät Vogelstein. Dabei handelt es sich in erster Linie um Lungenkrebs und Hautkrebs sowie Malignome, die ursächlich mit Virusinfektionen oder Erbkrankheiten in Verbindung stehen. Das Krebsrisiko der übrigen 22 untersuchten Gewebe hingegen, darunter überwiegend Weichteil- und Hirntumoren sowie Tumoren des GI-Trakts, entsprach in diesem Modell näherungsweise dem Vorhersagewert der Stammzellteilungen. Die Mehrzahl der Krebsfälle sei daher auf Pech zurückzuführen, sprich zufällige Mutationen während der DNA-Replikation normaler, nicht entarteter Stammzellen, heißt es in der Publikation.
Die Nachricht vom unglücklichen Zufall als Hauptursache vieler Krebsfälle erhielt weltweit ein ausgeprägtes Echo in wissenschaftsjournalistischen Redaktionen. Unter Experten stößt die Studie allerdings häufig auf Skepsis. David Gorski, onkologischer Chirurg und Professor der Chirurgie an der Wayne State University, kritisiert die zahlreichen Annahmen, auf denen das von Vogelstein und Tomasetti geschaffene Modell aufbaue, darunter dass die Zahl der Stammzellteilungen auf simplen mathematischen Schätzungen beruhe. Darüber hinaus hätten manche Organe mehr als eine Art von Stammzellen und nicht jeder Tumor entstehe aus einer solchen. Der Direktor der Internationalen Agentur für Krebsforschung (IARC), Dr. Christopher Wild, bemängelt jedoch insbesondere, dass für die Autoren angesichts der Unvorhersehbarkeit vieler Krebsfälle die Früherkennung im Mittelpunkt der Anstrengungen stehe: „Die Folgerung, dass Unglück die wichtigste Ursache von Krebs ist, wäre missverständlich und würde zudem von Anstrengungen ablenken, die Ursachen von Krebs zu erforschen, um das Auftreten von Krebs zu verhindern.“ Stattdessen müsse die Suche nach den Ursachen von Krebs fortgesetzt werden: „Die verbleibenden Lücken bis zur vollständigen Aufklärung der Krebsentstehung sollten nicht der Einfachheit halber dem persönlichen Glück zugeschrieben werden.“ Auf die größte Schwäche der Studie weisen die Autoren jedoch selbst in der Pressemitteilung zur Studienveröffentlichung hin. Aufgrund unzureichender Daten bezüglich der Stammzellteilungsraten in der wissenschaftlichen Literatur konnten mit Brustkrebs und Prostatakrebs zwei der häufigsten Krebserkrankungen überhaupt nicht in die Untersuchung mit einbezogen werden. Zwar seien die Ergebnisse der Studie angesichts aller Kritik an der Methodik nicht weit von allgemein akzeptierten Schätzungen entfernt, dass ein Drittel bis hin zur Hälfte aller Krebsfälle potenziell vermeidbar sei. Neue Erkenntnisse lieferten die Ergebnisse dementsprechend jedoch auch nicht, findet Gorski.
Die Untersuchung von Vogelstein und Tomasetti zeigt, dass die Häufigkeit der Stammzellteilungen einen wesentlichen Risikofaktor in der Karzinogenese darstellt. Dieser Zusammenhang wurde zwar bisher bereits weithin vermutet, jedoch noch nicht in dieser Form wissenschaftlich quantifiziert. „Unabhängig vom Zustand der Straßen und des Autos steigt die Wahrscheinlichkeit eines Unfalls mit der zurückgelegten Strecke“, erläutern die Autoren im Hinblick auf die Stammzellteilungsrate. „Vor dem Hintergrund dieser Analogie schätzen wir, dass zwei Drittel des Unfallrisikos der Länge der Fahrt zuzuschreiben sind. Das übrige Risiko ist auf schlechte Autos, schlechte Straßen und andere Faktoren zurückzuführen.“ Die Autoren legen großen Wert darauf, dass der Fokus nun umso stärker auf der Primär- und Sekundärprävention liegen müsse. Die Stammzellteilungsrate sei zwar ein wichtiger, jedoch nicht der einzige Risikofaktor. Die Beseitigung von risikobehafteten Umweltfaktoren und Verhaltensweisen sei daher bei einigen Krebserkrankungen am besten geeignet, das Risiko zu senken. Das beste Beispiel ist ein unverzüglicher Rauchstopp zur Senkung des Lungenkrebsrisikos. Bei allen anderen Krebsarten gewinne dagegen die Früherkennung weiter an Bedeutung. Schließlich legt die Studie nahe, dass mit der zunehmenden Lebenserwartung aufgrund der zusätzlichen Stammzellteilungen zukünftig auch das Krebsrisiko weiter steigt: „Wir sollten mehr Mittel darauf verwenden, Wege zu finden, um solche Krebsarten in frühen, heilbaren Stadien aufzuspüren.“