Der Bund ringt um den nächsten Haushalt. Und Karl Lauterbach hüpft mit seinem (geerbten) GKV-Defizit mitten durch die Arena. Beim Hauptstadtkongress hat das Sparschwein die heimliche Hauptrolle.
Gutes Timing, ob absichtlich oder nicht: Am Tag vor der Eröffnung des Hauptstadtkongresses in Berlin hat das Statistische Bundesamt Zahlen zum Einfluss der Pandemie auf die Gesundheitsausgaben veröffentlicht. Die Zahlen bezogen sich auf das Jahr 2020, also das erste Pandemiejahr. Und sie fokussierten sich auf den Anteil staatlicher Transfers und Zuschüsse an den laufenden Gesundheitsausgaben.
Klingt trocken, birgt aber Sprengstoff: Die laufenden Gesundheitsausgaben betrugen im Jahr 2020 insgesamt 431,8 Milliarden Euro. Davon kamen 67,9 Milliarden direkt vom Staat. Das ist eine Quote von 15,7 %. Im Jahr 2019, vor der Pandemie, waren es auch zu diesem Zeitpunkt schon hohe 12,7 %. Noch nie war der Anteil des Staates an den Gesundheitsausgaben in Deutschland auch nur annähernd so hoch wie während und seit der Pandemie.
Enthalten darin waren 2020 zum Beispiel 9,9 Milliarden Euro für Corona-bezogene Ausgleichsmaßnahmen an Krankenhäuser und Reha-Einrichtungen sowie für Schutzmasken, außerdem 3,5 Milliarden Euro für Ausgleichszahlungen nach der Coronavirus-Testverordnung. Dabei ging es 2020 mit Testerei gerade erst los. Enthalten war natürlich auch der Zuschuss, den der Bund traditionell an den im Jahr 2020 insgesamt 241,5 Milliarden Euro umfassenden GKV-Haushalt überweist. Der „normale“ Zuschuss an die GKV in Höhe von 14,5 Milliarden Euro war im Jahr 2020 um 3,5 Milliarden Euro auf 18 Milliarden Euro aufgestockt worden.
Dass das Ganze nicht so weitergehen kann, darüber herrscht Einigkeit, zumal 2020 kein Ausreißer war, sondern nur der Beginn einer finanziellen Dürreperiode, die wahrscheinlich noch einige Jahre andauern wird. 2021 betrug der GKV-Zuschuss des Bundes schon 19,5 Milliarden Euro, also eine Aufstockung des normalen Zuschusses um 5 Milliarden Euro. Und 2022 wird der GKV-Zuschuss auf satte 29 Milliarden Euro steigen, eine Aufstockung um 14,5 Milliarden Euro. Im Jahr 2023 fehlen Stand im Moment 17 Milliarden Euro an Aufstockung. Also nochmal mehr als 2021.
Das alles ist weder neu noch ein Geheimnis, aber es wird in der öffentlichen Diskussion häufig als Nebensache behandelt. Wer über Gesundheitspolitik redet, redet über Infektionsschutzgesetz, Ukraine-Unterstützung, elektronische Patientenakten und Herrn Huster. Dabei ist der eigentliche Elefant im Raum im Moment nicht Huster, sondern das Sparschwein. Bei der Eröffnung des Hauptstadtkongresses sprach Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach, zugeschaltet über Videobotschaft, da er zeitgleich bei der Gesundheitsminister-Konferenz in Magdeburg weilte, das Thema so an: „Wir wollen eine nachhaltige Finanzierung der Sozialversicherung und erarbeiten für die GKV derzeit ein Maßnahmenpaket.“ Mehr kam nicht.
Lauterbachs Konfliktlinien laufen zum einen in Richtung FDP, konkret Finanzminister Christian Lindner. Der will 2023 die Schuldenbremse des Grundgesetzes wieder einhalten und hat dafür wohl auch Rückendeckung vom Kanzler. 25 Milliarden Euro mussten für dieses Ziel ursprünglich noch eingespart werden. Mittlerweile sind es nach „Gesprächen mit Kabinettskollegen“ einem Bericht der FAZ zufolge nur noch 11 Milliarden Euro. Ob schon mit Lauterbach geredet wurde? Man weiß es nicht.
Die Relevanz dessen für Lauterbachs Maßnahmenpaket ist jedenfalls offensichtlich: Auf einen beliebig hohen Bundeszuschuss kann er nicht setzen. Aber nicht nur das. Auch die Reduzierung der Mehrwertsteuer auf Arzneimittel, die unter anderem der GKV Spitzenverband anregt und die Lauterbach selbst in seinen in der Koalition nicht abgestimmten Finanzierungsvorschlag vom März 2022 gepackt hatte, dürfte damit von vornherein ziemlich unwahrscheinlich werden. Denn das ginge unmittelbar auf den Bundeshaushalt.
Als weitgehend gesetzt gilt, dass er Bundeszuschuss an die GKV eine dynamische Komponente bekommt, mit der die Zunahme versicherungsfremder Leistungen – unter anderem familienpolitische Leistungen im Zusammenhang mit Schwangerschaft, Mutterschaft und Kindern – besser als bisher abgefangen wird. Das ist im Koalitionsvertrag vorgesehen, wird aber nicht reichen, um das Defizit im Jahr 2023 auszugleichen.
Ebenfalls als weitgehend gesetzt gilt ein gewisser Anstieg bei den Beiträgen für ALG II Empfänger. Die orientierten sich vor langer Zeit, in den 90er Jahren, an den vor der jeweiligen Arbeitslosigkeit zuletzt gezahlten Beiträgen. Seit den Hartz IV Reformen wird eine Beitragspauschale überwiesen, die nach Auffassung der GKV um zwei Drittel zu niedrig ist. Würde dieser Fehlbetrag komplett ausgeglichen, wären das allein 10 Milliarden Euro mehr jährlich. Mit Blick auf Christian Lindner und das Grundgesetz bzw. auf Bundesarbeitsminister Hubertus Heil, der das Geld am Ende überweisen muss, ist das utopisch.
Bleiben Maßnahmen, die allesamt an unterschiedlichen Stellen unpopulär sind und bei denen es deswegen wahrscheinlich auf ein Mischmodell hinauslaufen wird. Beliebt machen tut sich damit kein Gesundheitsminister der Welt, aber bei einem diversifizierten Paket würden zumindest alle gleichermaßen verprellt. Definitiv ausgeschlossen hat Lauterbach Leistungskürzungen. Daran dürfte er im Zweifel sogar sein Amt knüpfen, weswegen Gerüchte, wonach es in der Koalition Druck in Richtung Leistungskürzungen gebe, nicht allzu ernst genommen werden sollten.
Drei andere Töpfe, die wahrscheinlich genutzt werden, sind die Krankenkassenbeiträge, die Geldtöpfe der Pharmaindustrie und wohl auch die Ausgaben für die Leistungserbringer. Eine Beitragserhöhung um (mindestens) 1,1 Prozentpunkte würde das Defizit 2023 komplett stopfen. Realistischer erscheint Beobachtern vielleicht ein Drittel davon. Bei der Pharmaindustrie steht der Zwangsrabatt auf erstattungsfähige Arzneimittel als eine Schraube zur Verfügung, an der sich drehen lässt. An dieser Schraube wurde in der Vergangenheit schon wiederholt erfolgreich gedreht. Es ist allerdings eine sehr krude Maßnahme, und sie führt herstellerseitig zu leicht vorhersehbaren Gegenreaktionen, die dann verzögert wiederum verteuernd wirken. Auch bei den Leistungserbringer-Kosten sind Zwangsabschläge eine Option. Die im März 2022 von Lauterbach vorgelegten Vorschläge enthielten unter anderem eine temporäre Erhöhung des Kassenabschlags bei Apotheken. Besonders viel brächte das allerdings nicht.
Wie das Thema Ausgleich des GKV-Defizits politisch derzeit angegangen wird, darüber herrscht vielerorts Kopfschütteln in der Gesundheitspolitik. Dass Lauterbach das Geld beim Hauptstadtkongress nur in einem einzigen Satz streifte, war schon fast symptomatisch. Insbesondere der GKV-Spitzenverband ist verstimmt. Am weitesten ging hier Verwaltungsrats-Chef Uwe Clemens, pikanterweise selbst SPD-Mitglied. Er ließ nach diversen erfolglosen Versuchen einer Kontaktaufnahme zwischen Verband und Ministerium mitteilen, dass er für einen Termin bei seinem Parteigenossen nicht mehr zur Verfügung stehe. Die GKV-Spitzenverbands-Vorsitzende Doris Pfeiffer klang ähnlich frustriert: Es gebe bisher keinerlei erkennbare Initiative, strukturelle Defizite im Gesundheitswesen anzugehen, mit denen eine nachhaltige Verbesserung der Finanzierung erreicht werden könne. Was es gibt, sind Kommissionen, Strategieprozesse und Ähnliches, was sinnvoll sein mag, aber keine kurzfristigen Ergebnisse bringen wird.
Der Vorteil einer spürbaren Erhöhung der Kassenbeiträge, den die GKV nicht will, weil sie sich dann zum Buhmann macht, wäre die Transparenz, die das bringt. So würde jedem Bürger und jeder Bürgerin bewusst, dass ein leistungsfähiges Gesundheitswesen nicht nur Geld kostet, sondern dass es im Moment auch teurer wird, auch wegen immer besserer Behandlungsmöglichkeiten. Eine Beitragserhöhung würde auch der hohen Staatsquote entgegenwirken und damit eine schleichende UK-isierung des deutschen Gesundheitswesens zumindest unwahrscheinlicher machen.
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