Die Geschichte der Homosexualität in der Psychiatrie ist keine schöne. Einst als soziopathische Persönlichkeitsstörung klassifiziert, brachte ein Arzt vor 50 Jahren die Wende – versteckt hinter einer Nixon-Maske.
Homosexualität und Psychiatrie haben eine lange gemeinsame Vergangenheit. Eine, die nicht rosig ist. Zuerst religiös bedingt verachtet, dann in den 50er Jahren als psychische Störung klassifiziert – homosexuelle Menschen waren lange Zeit stigmatisiert. Eine besonders einschneidende Wendung der Geschichte, die schlussendlich auch zur Streichung der sexuellen Neigung vom Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (DSM) führen sollte, war Dr. John Fryers Rede bei der 1972 stattfindenden Versammlung der American Psychiatric Association (APA) in Dallas, die 2022 ihr 50-jähriges Jubiläum feiert.
Die Stigmatisierung der Homosexualität geht weit zurück. Kaum verwunderlich also, dass auch die Disziplinen der Psychiatrie und Psychologie von der allgemein gültigen Auffassung einer Heteronormativität beeinflusst waren. Besonders die christliche Religion hatte lange Zeit einen großen Einfluss auf diese Wahrnehmung. Als sich schließlich im 19. Jahrhundert die Machtverhältnisse weg von der Kirche und hin zu weltlichen Autoritäten verlagerten, begann auch dieses Weltbild, sich zu wandeln und verstärkt durch einen anderen Blickwinkel betrachtet zu werden – man versuchte, Homosexualität zu heilen.
Frühe Therapievorschläge gegen Homosexualität waren beispielsweise Bewegung an der frischen Luft „da nichts dem sexuellen Appetit so sehr entgegensteht wie körperliche Ermüdung“, eine heterosexuelle Heirat oder der Besuch von Prostituierten. Dieses Vorgehen wurde allerdings auch kritisch betrachtet. In der öffentlichen und medizinischen Wahrnehmung der Homosexualität tat sich viel. „Schließlich wurden Begriffe wie dämonische Besessenheit, Trunkenheit und Sodomie in die wissenschaftlichen Kategorien des Wahnsinns, des Alkoholismus und der Homosexualität umgewandelt“, erläutert Dr. Jack Drescher vom Department of Psychiatry des New York Medical College.
Mitte des 19. Jahrhunderts beginnt die moderne Geschichte der Homosexualität im psychiatrischen Kontext. Während es durchaus bereits zu dieser Zeit progressive Ansätze gab, setzte sich nach Freuds Tod 1939 eine pathologische Sichtweise durch. Laut psychodynamischen Ansätzen wäre die Heterosexualität die einzige biologische Norm. Homosexualität würde aus einer zu starken kindlichen Bindung an die Mutter bei gleichzeitig gestörter Vater-Sohn-Beziehung resultieren. „Wenn Homosexualität also eine Fehlanpassung des Kindes an bestimmte Lebensumstände wäre, dann sollte es auch möglich sein, sie durch Therapie – durch das Aufarbeiten des damaligen Konfliktes – zu heilen“, schreiben Biechele et. al. in ihrer geschichtlichen Aufarbeitung zum Thema Homosexualität in der Psychiatrie.
1952 veröffentlichte die American Psychiatric Association das erste Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (DSM-I) und klassifizierte darin Homosexualität als sexuelle Abweichung innerhalb der größeren Kategorie der soziopathischen Persönlichkeitsstörungen. Die Diagnose der sexuellen Abweichung umfasste außerdem Transvestismus, Pädophilie, Fetischismus und sexuellen Sadismus. Im DSM-II wurden 1968 Homosexualität und andere sexuelle Abweichungen dann eindeutig als psychische Störungen klassifiziert. Doch eine Änderung dieser Klassifizierung ließ nicht lange auf sich warten.
Als ein geschätztes Mitglied der APA stand 1972 Dr. John E. Fryer unter dem Pseudonoym Dr. Henry Anonymous, mit Nixon-Maske verkleidet und stimmenverzerrtem Mikrophon, auf der Bühne der APA-Jahresversammlung. Dort sprach er aus, was Kollegen, Betroffene und betroffene Kollegen hören mussten. „Ich bin homosexuell. Ich bin Psychiater.“
In einer heute bekannten und wichtigen Rede apelliert Fryer an seine APA-Kollegen: „Wenn Sie mit Berufskollegen zusammen sind, die die ‚Schwuchteln‘, die ‚Tunten‘ verunglimpfen, sehen Sie nicht tatenlos zu. Geben Sie auch Ihre Karriere nicht auf. Zeigen Sie ein wenig kreativen Einfallsreichtum und lassen Sie Ihre Mitarbeiter wissen, dass sie viele Fragen haben, über die sie noch einmal nachdenken müssen.“ Fryer verkündete zudem seine eigene Homosexualität und sprach seine ebenfalls homosexuellen Kollegen direkt an. Sie müssten sich gemeinsam an Bewegungen beteiligen, die versuchen, die Einstellung zur Homosexualität zu ändern. Außerdem hätten homosexuelle Psychiater eine Tendenz dazu, mit Instituten verheiratet zu sein, anstatt Zeit mit ihren Partnern zu verbringen– und zwar mit denjenigen Institutionen, „die uns im wahrsten Sinne des Wortes zerkauen und ausspucken würden, wenn sie die Wahrheit nur wüssten oder anerkennen würden“.
Bereits in den 1960er Jahren wurde die DSM-Klassifizierung der Homosexualität kritisiert. Dr. Frank Kameny und Barbara Gittings führten eine jahrelange Kampagne gegen die APA, bis sie schließlich 1971 bei der jährlichen Versammlung mit ihrem Anliegen Aufsehen erregten. Im Folgejahr organisierten die beiden die Podiumsdiskussion „Psychiatrie: Freund oder Feind der Homosexuellen?“, in der letztendlich Fryer seine Rede halten sollte. Die APA bildete anschließend ein Gremium, das die Grundlage für die DSM-Klassifikation bewerten sollte. Im Jahr 1973 wurde Homosexualität dann nicht mehr als psychische Krankheit eingestuft.
Der ebenfalls homosexuelle Dr. Kemney, der zuvor seine Stelle im Raumfahrtprogramm auf Grund seiner Sexualität verlor, erinnert sich: „Am 15. Dezember 1973“, sagt Kamney, „wurden wir massenhaft von den Psychiatern geheilt“, als die Diagnose Homosexualität plötzliche keine mehr war. Jedoch fassten diesen Befreiungsschlag nicht alle als solchen auf. Vertreter der psychoanalytischen Schule erhoben Einspruch gegen die Entscheidung der APA. Ihre Argumentation: „Man könne die Wissenschaft nicht durch Abstimmung entscheiden.“
Nichtsdestotrotz war mit dem Einsatz und der Rede John Fryers nicht alle Arbeit getan, so Drescher in seiner Analyse „Raus aus dem DSM: Entpathologisierung der Homosexualität“. Das DSM-II entfernte zwar Homosexualität als Krankheit per se, jedoch wurde an ihrer Stelle die Diagnose Sexuelle Orientierungsstörung (SOD) eingeführt. Diese Diagnose ebnete den Weg für die Konversionstherapie. Erst mit der Auflage DSM-III-R 1987 verschwand Homosexualität als Diagnose komplett und die APA akzeptierte Homosexualität in einer Weise, die zu Kameny und Fryers Zeiten nicht möglich gewesen wäre. Aus der internationalen Krankheitsklassifikation, dem ICD, wurde Homosexualität als Störungsbild erst 1990 mit der Version ICD-10 entfernt.
„Infolgedessen verlagerten sich die Debatten über Homosexualität allmählich von der Medizin und Psychiatrie in den moralischen und politischen Bereich, da religiöse, staatliche, militärische, Medien- und Bildungseinrichtungen keine medizinische oder wissenschaftliche Begründung für ihre Diskriminierung mehr finden konnten“, erklärt Drescher. „Die Abschaffung der Diagnose aus dem DSM führte zu einer wichtigen Verlagerung von der Frage ‚Was verursacht Homosexualität?‘ und ‚Wie können wir sie behandeln?‘ hin zur Konzentration auf die gesundheitlichen und psychischen Bedürfnisse von LGBT-Patientengruppen“, konkludiert er.
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