Ein wahrer Jungbrunnen soll es sein, vor einem Herzinfarkt schützen und Krebs heilen. Die Rede ist von Melatonin. Dass das körpereigene Hormon eine wichtige Rolle bei der Regulation zirkadianer Rhythmen spielt, ist unbestritten. Doch was bringt eine Therapie mit Melatonin wirklich?
Melatonin ist ein starkes Antioxidans. Soweit, so richtig. Dass es allerdings freie Radikale abfängt, so den Alterungsprozess aufhält, und dabei auch gleich noch Krebs heilt und vor Herzinfarkten sowie Schlaganfällen schützt, gehört ins Reich der zahlreichen Mythen und Legenden, die sich um diesen Stoff ranken. Von Anorexie über Haarausfall bis hin zu schlechten Cholesterinwerten sowie Zyklusbeschwerden reicht das Spektrum an Krankheiten, die Melatonin lindern oder gar heilen soll – das zumindest behaupten die zahlreichen Hersteller des angeblichen Wundermittels. Doch lediglich die Wirksamkeit bei der Bekämpfung von Schlafstörungen und Jetlag ist wissenschaftlich gut gesichert. In Deutschland sind melatoninhaltige Arzneimittel grundsätzlich verschreibungspflichtig. Es gibt zurzeit aber nur ein Medikament auf dem Markt: Circadin – es enthält 2 mg Melatonin in retardierter Form. Zudem gibt es lediglich eine einzige Indikation, für die Melatonin hierzulande zugelassen ist: Zur kurzzeitigen Therapie der primären Insomnie bei Patienten ab 55 Jahren. Als diätetisches Lebensmittel deklariert, hat Melatonin jedoch einen anderen Weg in den Handel gefunden, sodass Kapseln mit bis zu 5 mg Melatonin rezeptfrei für jeden erhältlich sind. Laut EU-Verordnung dürfen melatoninhaltige Produkte lediglich mit den Hinweisen „Melatonin trägt zur Linderung des subjektiven Jetlag-Gefühls bei“ und „Melatonin trägt dazu bei, die Einschlafzeit zu verkürzen“ beworben werden. In anderen Ländern dagegen ist Melatonin als Nahrungsergänzungsmittel zugelassen und erfreut sich dort stetig wachsender Beliebtheit. Innerhalb von fünf Jahren hat sich beispielsweise der Umsatz in den USA fast verdreifacht, von 90 Millionen US-Dollar im Jahr 2007 auf 260 Millionen US-Dollar im Jahr 2012.
Dabei kann die Bioverfügbarkeit bei der oralen Aufnahme von Melatonin sehr unterschiedlich sein – in einer Studie schwankten die Werte der Probanden zwischen 10 und 56 % mit einem Mittelwert von 33 %. Eine andere Studie kommt sogar nur zu einer mittleren Bioverfügbarkeit von 15 % nach oraler Aufnahme. Nach der Einnahme steigt der Melatoninspiegel schnell an und erreicht nach etwa 60 Minuten ein dosisabhängiges Maximum. Einer Studie zufolge führen 3 mg oral verabreichtes unretardiertes Melatonin zu einem Serumspiegel von 2400 pg/ml. Nach ca. 4 Stunden ist keine erhöhte Serumkonzentration mehr nachweisbar. Doch wie viel ist das im Vergleich zur physiologischen Konzentration? Diese Frage zu beantworten, ist gar nicht so einfach. Zum einen ändert sich die Melatoninkonzentration im tageszeitlichen Rhythmus: Tagsüber ist die Konzentration gering, abends steigt sie an. Ein typischer Tageswert liegt unter 10 pg/ml, nachts steigt die Konzentration auf bis zu 100 pg/ml an. Allerdings gilt dieser Durchschnittswert nur für junge, gesunde Menschen, da die Ausschüttung von Melatonin mit zunehmendem Alter sinkt. Im Gegensatz zu anderen Hormonen wie Kortisol und ACTH wurde für Melatonin bisher kein Serum-Grenzwert definiert, und Melatoninmangel gilt nicht als anerkanntes Krankheitsbild der Endokrinologie.
Melatonin ist auch in sehr großen Mengen ungiftig und wird in der Regel gut vertragen. Das heißt allerdings nicht, dass es auch harmlos ist. Neben Tagesmüdigkeit und Magenbeschwerden können auch noch andere Nebenwirkungen auftreten, die gerne von den Melatonin-Advokaten verschwiegen werden. Bei der Einnahme von Melatonin treten nämlich gelegentlich auch Reizbarkeit und Nervosität auf, ebenso Rastlosigkeit, Insomnie, Migräne, Lethargie und Hypertonie. In seltenen Fällen kann es sogar zu Leukopenie, Thrombozytopenie, Hämaturie, Angina Pectoris, Schwindel, Sehstörungen, Synkope und Depressionen kommen. Außerdem kann es auch bei Melatonin zu Wechselwirkungen mit anderen Medikamenten kommen. Da Melatonin in der Leber vor allem durch Enzyme des Cytochrom P450-Systems metabolisiert wird, haben Medikamente, welche die Leberfunktion beeinflussen, auch einen Effekt auf den Melatoninspiegel und umgekehrt. Vorsicht ist auch bei Patienten geboten, die an einer Niereninsuffizienz, einer Leberfunktionsstörung oder einer Autoimmunerkrankung leiden. Melatonin ist also keineswegs das harmlose Naturheilmittel, als das es in der Werbung angepriesen wird.
Da Melatonin die innere Uhr steuert, ist der Zeitpunkt der Melatonin-Gabe entscheidend. Wer Melatonin tagsüber statt vor dem Schlafen einnimmt, riskiert Müdigkeit und Benommenheit, die bis zur Untüchtigkeit beim Bedienen von Maschinen und Fahrzeugen führen können. Bei anderen Krankheitsbildern scheint Melatonin abhängig von der Tageszeit unterschiedliche Wirkungen zu entfalten: Studien konnten zeigen, dass eine Melatonin-Injektion am Morgen das Wachstum experimenteller Tumore stimulierte, am Nachmittag oder Abend dagegen zu einer Hemmung des Tumorwachstums führte. Ein ähnlicher Effekt wurde auch bei depressiven Störungen beobachtet: Eine Melatonin-Gabe am Tag verschlimmerte die Beschwerden einer bipolaren Störung oder einer Depression. Es scheint zwar sicher, dass eine kurzfristige Einnahme meist ohne negative Auswirkungen bleibt, doch die Folgen einer längerfristigen Einnahme sind bisher nur unzureichend erforscht. Es gibt jedoch Hinweise darauf, dass sich Melatonin negativ auf die Fruchtbarkeit von Mann und Frau auswirken könnte: Eine (kontrovers diskutierte) Studie zeigte, dass die Spermienqualität bei manchen Männern nach regelmäßiger Einnahme von Melatonin abnimmt. In einer anderen Studie wurde sogar die Wirkung von hochdosiertem Melatonin als Kontrazeptivum für Frauen untersucht.
Obwohl Melatonin nur zur Insomnie-Therapie zugelassen ist, gibt es Hinweise darauf, dass es auch noch bei anderen Erkrankungen nützlich sein könnte. Zwei Reviews aus dem Jahr 2012 kommen übereinstimmend zu dem Ergebnis, dass Melatonin als Adjuvans bei der Therapie von Festkörpertumoren einen positiven Effekt auf Tumorremission, Überlebensrate und Nebenwirkungen einer Strahlen-/Chemotherapie hat. Die genaue Wirkung von Melatonin scheint allerdings stark von der Art des Krebses abzuhängen. Dass die Einnahme von Melatonin Krebs sogar vorbeugen kann, ist dagegen bisher nicht ausreichend belegt, und es gibt zahlreiche Studien, die keine onkoprotektive Wirkung zeigen konnten. Melatonin könnte sich aber auch für eine völlig andere Indikation als hilfreich erweisen: Tinnitus. Es gibt bisher zwar nur zwei randomisierte kontrollierte Studien, doch beide kommen übereinstimmend zu dem Schluss, dass Melatonin bei der Therapie des unliebsamen Ohrensausens wirksamer ist als ein Placebo. Der genaue Wirkmechanismus konnte bisher allerdings nicht aufgeklärt werden. Da Melatonin schlaffördernd, antinozizeptiv und sedierend wirkt und außerdem einen verstärkenden Effekt auf die Wirkung von Hypnotika, Sedativa und Anästhetika hat, könnte es außerdem beispielsweise als anästhesiologisches Adjuvans Einsatz finden. Außerdem wurde Melatonin bereits erfolgreich bei solchen Untersuchungen von Kindern verwendet, die normalerweise eine Sedierung oder Anästhesie erfordern, z. B. MRT und EEG. Der Einsatz als vollwertige Alternative zu Midazolam für die anästhesiologische Prämedikation wird dagegen kontrovers diskutiert.
Ein analgetischer Effekt von Melatonin wurde bisher nur bei der Behandlung von Krankheiten mit chronischen Schmerzen nachgewiesen, beispielsweise bei der Fibromyalgie und dem Reizdarmsyndrom. Die Datenlage ist jedoch noch so dünn, dass Melatonin in den entsprechenden deutschen Leitlinien bisher nur am Rande Erwähnung findet. Der Einsatz bei der Migräne-Prophylaxe ist ebenfalls umstritten, da es sowohl Studien gibt, die eine prophylaktische Wirkung bestätigen, als auch solche, die dagegen sprechen. In der Leitlinie zur Prophylaxe von Clusterkopfschmerz wird daher nur erwähnt, dass Einzelberichte bzw. offene Studien einen positiven Effekt von Topiramat und Melatonin beschreiben. In der postoperativen Schmerztherapie gibt es zwar bisher nur wenige Erfahrungen mit Melatonin, ein Review von 2014 kommt jedoch zu dem Schluss, dass Melatonin anscheinend postoperative Schmerzen verringert, wenn auch eine große Heterogenität in den Studiendaten die Aussage erschwerte. Und auch Kinder könnten von Melatonin profitieren: Eine Pilotstudie zur Beatmung Neugeborener mittels endotrachealer Intubation konnte zeigen, dass Melatonin in Kombination mit den normalen Sedativa und Analgetika wirksamer gegen Schmerzen ist als Sedativa und Analgetika alleine.
Melatonin ist bisher zwar nur zur kurzfristigen Behandlung der Insomnie bei Patienten ab 55 Jahren zugelassen, allerdings gibt es durchaus auch für die Behandlung des Jetlags ausreichend Evidenz. Für weitere Indikationen gibt es bisher zwar vielversprechende Hinweise auf eine therapeutische Wirkung, doch noch existieren zu wenige randomisierte kontrollierte Studien, um eine Empfehlung auszusprechen. Hier besteht also großer Forschungsbedarf. Durch den Melatoninhype der 90er Jahre gelangte das Thema in das öffentliche Bewusstsein und es wurden große Hoffnungen geweckt. Dass sich Melatonin in der Folge nicht als das erhoffte Wundermittel erwies, sollte einer wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Thema jedoch nicht im Wege stehen.