Bei einigen Kindern auf pädiatrischen Intensivstationen wissen Ärzte einfach nicht, was sie haben. In einer Studie wird nun deren Genom und das ihrer Eltern auf seltene Erkrankungen untersucht.
Etwa vier Millionen Menschen leiden in Deutschland an einer der vielen verschiedenen seltenen Erkrankungen (SE) – vor allem auch schwer erkrankte Kinder, die intensivmedizinisch behandelt werden müssen. Die meisten seltenen Erkrankungen sind genetisch bedingt und oft vergehen Jahre, bis die richtige Diagnose gefunden wird. Kann die Behandlung von schwer kranken Kindern durch eine schnelle genetische Diagnosestellung verbessert werden?
Dieser Frage geht ein Team aus Kinderheilkunde und Humangenetik der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH) in der Studie „Baby Lion“ nach. Im Mittelpunkt steht dabei die Entschlüsselung des Genoms in nur wenigen Tagen.
Um eine seltene Erkrankung handelt es sich laut EU-Definition, wenn sie unter 10.000 Einwohnern höchstens fünf Mal auftritt. Insgesamt sind mehr als 7.000 verschiedene seltene Erkrankungen bekannt. „So gesehen ist eine seltene Erkrankung dann doch nicht so selten“, sagt Dr. Bernd Auber vom Institut für Humangenetik.
Für die Studie nehmen er und sein Team eine spezielle Patientengruppe in den Fokus: Kinder in den ersten Lebenswochen und -monaten, die so krank sind, dass sie auf einer Intensivstation behandelt werden müssen. „Die Ursache für ihre Symptome ist oft nicht klar. und es kann keine eindeutige Diagnose gestellt werden“, erklärt Dr. Alexander von Gise, einer der an der Studie beteiligten Kinderintensivärzte. Ohne eine genaue Diagnose ist aber keine gezielte Behandlung möglich, es folgt oft ein langer Leidensweg und eine Odyssee von Arzt zu Arzt.
Genau hier setzt die „Baby Lion“-Studie an, die erste Studie dieser Art im deutschsprachigen Raum. „Es gibt heute die Möglichkeit, das menschliche Genom in wenigen Tagen komplett zu entschlüsseln“, erklärt Auber. Experten sprechen dabei von einer Ganzgenomsequenzierung (Whole Genome Sequencing, WGS). Mithilfe dieser sehr umfangreichen und technisch anspruchsvollen Diagnostikmethode, bei der riesige Datenmengen erzeugt werden, können auch extrem seltene genetisch bedingte Krankheitsbilder identifiziert werden.
In der Studie möchten die Experten der Genetik und Kinderheilkunde aber nicht nur das Genom der kranken Kinder entschlüsseln, sondern auch das der beiden Elternteile. Mit dieser Trio-Ganzgenomsequenzierung können die drei Genome ganz genau miteinander verglichen werden und relevante genetische Veränderungen beim Kind schnell erkannt werden.
„Trotz der großen Datenmengen innerhalb weniger Tage zu einer Diagnose zu kommen, wäre gerade auch bei schwer kranken Neugeborenen eine große Hilfe“, meint Prof. Bettina Bohnhorst, Leiterin der Neugeborenenintensivstation der MHH. In den USA und anderen Ländern wurden mit dieser neuartigen Diagnostikmethode bereits sehr gute Erfahrungen gemacht. „Bei bis zu 40 Prozent der untersuchten Kinder konnte die Diagnose einer genetisch bedingten Erkrankung gestellt werden“, berichtet Dr. Michael Sasse, Leiter der pädiatrischen Intensivstation der MHH. „Dank der frühzeitigen und sicheren Diagnose ist es möglich, den Kindern und ihren Familien schneller gezielt zu helfen. In seltenen Fällen kann bereits jetzt mit einer spezifischen Therapie begonnen werden.“ Leidenswege können verkürzt und unnötige Therapien und Untersuchungen vermieden werden.
Nun möchte das Team um Auber herausfinden, ob sich diese Erkenntnisse auch auf das deutsche Gesundheitssystem übertragen lassen. In die Studie sollen innerhalb eines Jahres 100 Kinder und ihre Eltern eingeschlossen werden. Dabei handelt es sich um Familien, die auf den Intensivstationen der Kinderklinik der MHH und in anderen niedersächsischen Krankenhäusern betreut werden. Bei der Studie arbeiten die Genetiker eng mit den Kollegen der neonatologischen und kinderintensivmedizinischen Stationen zusammen.
Für die Teilnahme an „Baby Lion“ muss eine kleine Menge Blut entnommen werden. Nach der Genomsequenzierung besprechen die behandelnden Kinderärzte das Ergebnis und die weiteren therapeutischen Schritte mit den Eltern. Außerdem wird allen Familien eine genetische Beratung angeboten. Nach einiger Zeit erfolgt eine Befragung der behandelnden Kinderärzte und auch der Eltern nach den Auswirkungen der schnellen Diagnostik auf die gesundheitliche Entwicklung des Kindes. Auber betont: „Wenn wir mit unserer Studie zeigen können, dass sich das Verfahren positiv auf die Behandlung der betroffenen Kinder auswirkt, hoffen wir, in Zukunft allen schwer erkrankten Kindern eine schnelle Genomsequenzierung in der Regelversorgung anbieten zu können.“
Dieser Beitrag basiert auf einer Pressemitteilung der Medizinischen Hochschule Hannover.
Bildquelle: Markus Spiske, unsplash