Vor fünf Jahren erhielt ich wegen meiner Krebsdiagnose eine Stammzellspende. In einem Gespräch tausche ich mich mit meinem Spender endlich aus und erzähle, warum ich dank ihm jetzt ‚den perfekten Mord‘ begehen könnte.
Es gibt Texte, die gehen mir leicht von der Hand – bei diesem hier ist es eher so, wie bei der sprichwörtlichen Katze, die um den heißen Brei herumstreicht. Über den Tag meiner Diagnose (Non-Hodgkin-Lymphom) habe ich schon häufiger geschrieben; auch über die Therapieerlebnisse danach und meine Strategien um gut durch diese herausfordernde Zeit zu kommen. Über die Gedanken zu meinem Stammzellenspender, einem wildfremden Menschen, der sich entschieden hatte, sich typisieren zu lassen und mit seinem Gen-Code einem Menschen das Leben zu retten, bisher sehr wenig.
Schon beim Schreiben dieses Intros merke ich, wie mir ganz warm wird, sich mein Hals zuschnürt und meine Augen – mal wieder – mit Tränen füllen. Da steckt so eine große Dankbarkeit in mir, die mich bisher sprachlos zurückließ.
Meinem Spender Falk, den ich inzwischen kennenlernen durfte, geht es anders und doch ähnlich. Er sagte einmal: „Wenn du nach deinem bisher tollsten Moment im Leben gefragt wirst, kannst du jemandem sagen, dass du an den Niagarafällen standest oder dass du dein Abitur bestanden hast oder du mit dem Rucksack durch Thailand gewandert bist. Aber Post von deinem Stammzellen-Empfänger zu bekommen, zu wissen, dass dieser Mensch den Krebs besiegt hat und weiterleben darf, das ist etwas ganz anderes.“
Falk ist heute immer noch ein sehr junger Mann. Mit 17 hatte er sich für die Typisierung entschieden und mit 18 Jahren dann an mich gespendet. Das war 2017. Ich selbst war 2017 gerade 51 Jahre alt geworden, als sich Falks und mein Leben trafen. Eigentlich war ich schon happy gewesen, meinen 50. Geburtstag, vor dem ich vor meiner Erkrankung so eine große Angst gehabt hatte, feiern zu können. Meine Kerze war da schon reichlich runter gebrannt – oder wie mein Vater diese Situation zu beschreiben pflegt: „Das war kurz vor dem Lokus in die Hose.“
Die Suche nach einer Therapie, die mich am Leben halten sollte, gestaltete sich schwieriger als von den Ärzten gedacht. Die Standardtherapie griff nicht, aus der ausgewählten Studie flog ich raus. Ich und meinen Behandler erlebten eine medizinische Niederlage, eine Hiobsbotschaft nach der anderen.
Der Mut der Verzweiflung veranlasste das Ärzte-Team eine Therapie einzusetzen, die zwar geprüft, aber noch nicht zugelassen war. Diese erreichte unverhofft eine komplette Abschwächung der Symptome und damit eine enorme Stabilisierung meines Zustandes. Der Krebs war zurückgedrängt, ich war krebsfrei. Das Wunder, an das alle geglaubt hatten, war eingetreten.
Als mir die Ärzte aber offenbarten „Um das bisherige Therapieergebnis abzusichern, raten wir Ihnen unbedingt zu einer Fremd-Stammzelltransplantation“, wurde mir schwarz vor Augen. Chaos im Kopf.
Oh, nein! Das war genau das, was ich niemals wollte. Die Berichte, die mich darüber bisher erreicht hatten, waren bei mir unter dem Titel „Besser nicht nachmachen“ verbucht.
Gut, eine große Wahl hatte ich nicht, wenn ich meinen Ärzten Glauben schenken sollte – und das tat ich, ohne Frage. Wieder eine Entscheidung, die alles Bisherige in den Schatten stellte. Ich gab grünes Licht.
Jetzt musste „nur noch“ ein Spender gefunden werden. Meine beiden jüngeren Schwestern passten nicht. Wieder ein Rückschlag. Die fieberhafte Suche ging in die nächste Stufe. Dann die Wende: “Wir haben zwei, wir haben ZWEI!“ Mein Arzt flog mir mit einem Blatt Papier in der Hand wedelnd entgegen, sein weißer Kittel hatte Mühe mit ihm mitzuhalten.
Er strahlte übers ganze Gesicht. „Hier steht es, Nella. Es kann los gehen!“ Seiner bisherigen Zurückhaltung einen Ruck gebend, drückte er mich kurz fest an sich und lief gleich weiter, um die frohe Kunde auch dem Professor mitzuteilen. Ich stand wie vom Glücksdonner gerührt auf dem Flur. Tränen der Erleichterung, die eigentlich hätten fließen sollen, kamen nicht. Ich war völlig perplex und regungslos stehengeblieben. Ich musste mich erst einmal sammeln und schaute dem weißen Kittel hinterher.
Als ich dann, fast fünf Jahre später mit meinem Stammzellspender ein Gespräch für meinen Podcast aufnahm, kam all das wieder hoch. Diese Mischung aus Glück und Überforderung, der Moment auf dem Flur der Charité. Ich hatte mir vorher oft darüber Gedanken gemacht, was meinen Spender veranlasst hatte, sich typisieren zu lassen. Vor allem als ich erfuhr, dass er noch so jung war. Wir beide mussten zwei Jahre warten, bis ich einen Brief mit Kontaktanfrage über die DKMS losschicken durfte. Falk, mein Spender, war mindestens so neugierig auf mich, wie ich auf ihn. Wenn nicht sogar mehr. Denn er hatte schon nach einem Jahr angefragt, ob es mir weiterhin gut ging, wie es um mich stünde.
Und jetzt war es so weit – wir waren beide unfassbar aufgeregt: „Hallo Falk, hier spricht Nella. Die Aufnahme läuft.“
Dieses Gefühl, mit jemandem zu sprechen, dessen Blut zu meinem geworden ist, sich klarzumachen, was dieser Mensch für mich und meine Familie getan hat, ist übermächtig und macht mich auch jetzt in diesem Augenblick wieder ganz schwindelig. Meine Ohren werden rot und heiß. So ist das immer, wenn ich versuche mich zu kontrollieren, es mir aber offensichtlich nicht gelingt.
Ich selbst hatte mir vorher nie Gedanken über eine Typisierung gemacht, nie daran gedacht, Spenderin zu sein. Das war nicht auf meinen Radar. Mein Leben war voll mit so vielen anderen Dingen: Familie, Beruf, Freunde, Sport, Reisen, Kunst und Kultur. Im Trampelpfad des Alltags war für diese Überlegungen kein Platz. Ein latent schlechtes Gewissen überfällt mich deshalb auch jetzt wieder. Es wäre doch so einfach gewesen. Warum habe ich nie darüber nachgedacht? Eine große Demut überkommt mich.
Wie so oft braucht es dafür eben einen konkreten Anlass. So war es auch bei Falk. Diese Erkenntnis versöhnt mich dann wieder mit mir. Der Beginn unserer „genetischen Zwillingschaft“ war ein Spendenaufruf in seiner Heimatstadt 2017, an dem sich auch seine Schule beteiligt hatte. Die an einer Leukämie erkrankte Mutter eines Bekannten brauchte dringend einen passsenden Spender und so folgten er und seine ganze Familie, fast die ganze Stadt, diesem Aufruf und ließen sich registrieren.
Nur fast sechs Monate später wurde der damals 18-jährige Falk von der DKMS auf der Autobahn angerufen und aufgefordert, erst einmal rechts ranzufahren, um in Ruhe zurückzurufen. Das tat er zum Glück auch.
Ob er denn noch dazu bereit wäre zu spenden, wurde er gleich gefragt. Denn es gäbe da einen Krebspatienten, der eine 100-prozentige Übereinstimmung mit ihm hätte und dringend seine Stammzellen bräuchte. „Ich war so aufgeregt und konnte nicht mehr weiterfahren. Meine Freundin hat dann das Steuer übernommen“, erzählt Falk im Gespräch. Rotäugig schauen wir uns via Zoom an, als er von dieser Szene berichtet und ich quasi, wie in einer Zeitreise in die Vergangenheit sehe, wie er am Straßenrand steht und telefoniert.
Die ganze Dimension dieses Entschlusses, der auf der Autobahn erneuert wurde, wurde noch greifbarer für mich, als ich DAS Foto von ihm bekam, das den für mich so wichtigen Zeitpunkt festhielt.
Das Bild, dass ihn zeigt, wie er auf der Liege liegt, mir seine Stammzellen spendet und dabei glücklich in die Kamera lächelt. Die Tränen kullern mir dabei jedes Mal aufs Neue übers Gesicht.
Der Akt der Transplantation selbst war im Vergleich zur Vorgeschichte, äußerst unspektakulär und dennoch nicht mehr und nicht weniger als die entscheidende Weichenstellung für Teil 2 meines Lebens. Ein Beutel an einem Infusionsständer, mehr nicht.
„Du weißt ja, dass ich jetzt auch deine Blutgruppe habe, oder?“, überfalle ich Falk in unserem Gespräch und leite mit diesen Worten eine noch überraschendere Information ein, von der ich weiß, dass sie ihn umhauen wird. „Nein, echt, wie abgefahren. Aber klar, ist ja auch logisch, aber trotzdem spooky.“
Dann erzähle ich von einem Fakt, mit dem mich mein Arzt damals überraschte: „Ganz besonders verrückt ist, dass ich jetzt, ohne entdeckt zu werden, einen Mord begehen könnte, weißt du das eigentlich?“ Danach steht ihm dann wie von mir prophezeit der Mund offen, genau wie mir vor fast fünf Jahren.
Als ich meinen Arzt damals fragte, was denn das Spezielle daran sei, dass meine Stammzellen von einem Mann und nicht – wie ich erst dachte – von einer Frau gespendet wurden, erklärte er mir, dass ich neben dem Glück einen besonders „jungen Cocktail“ bekommen zu haben, jetzt auch den „perfekten“ Mord begehen könne. „Ihre Blutgruppe ist erstens eine andere und zweitens eben die eines Mannes. Auf Sie als Frau würde keiner der Ermittler kommen. Am Tatort gäbe es keine Hinweise auf eine weibliche Täterin.“
Was für ein cooler Plot für einen Krimi!
Neben dieser kriminalistisch interessanten Besonderheit unserer Verbindung gibt es noch einiges, was durchaus Gänsehautpotential hat: Wir kommen beide aus Nordrhein-Westfalen. Falk ist dort geboren worden, wo die Bäckerei und Konditorei der Vorfahren meines Mannes aufgebaut wurde und meine Großtante einige Jahre lebte. Falk ist sehr sportlich. Tennisspielen und Ausdauersport machen wir beide gern. Außerdem ist er neugierig und ungeduldig, wie ich auch und wir haben beide eine gewisse Hartnäckigkeit an Themen, die uns interessieren, dranzubleiben.
Der einzige Nachteil: Seit der Transplantation kann ich keinen Fisch mehr essen, was mich sehr betrübt. Eine ähnlich geartete Unverträglichkeit hat Falk aber nicht, das haben wir schon geklärt.
Die emotionalste Sache habe ich mir für den Schluss aufgehoben. Falks Eltern, seine Mutter im Besonderen, sind genauso alt, wie ich. Als wir darüber sprechen, haute er fast beiläufig diesen Satz raus, der im Grunde alles sagt: „Es hätte ja auch meine Mutter sein können, die meine Stammzellen braucht.“
Dass diese Feststellung eben doch mehr war, als ein zauberhaft-kitschiger Taschentuchmoment, wurde mir so richtig bewusst, als ich mir unser Gespräch kurz danach für den Schnitt noch einmal anhörte. Wir beide kommentieren das eben Gesagte mit einem kräftigen Atemzug in der Tonspur, legen eine kleine gedankenverlorene Gesprächspause ein.
Wichtig für Falk ist es aber, zu betonen, dass es ihm überhaupt nicht angenehm ist, glorifiziert zu werden. Das Wort „Held“ lehnt er kategorisch ab. „Ich habe doch nur meine Stammzellen gespendet, mehr nicht. Den Rest hat dein Körper gemacht“, lautet sein Kommentar dazu. „Die Spende an sich ist keine große Sache, keine Operation oder so. Wie eine Blutspende, mehr nicht“, bekräftigt Falk zum Abschluss und ergänzt ganz ruhig und voller Überzeugung: „Ich würde es immer wieder tun.“
Dass wir beide uns so gut verstehen, ist nicht selbstverständlich. Wir haben beide extrem viel Glück gehabt, wobei mein Anteil am Glückskuchen einen erheblichen Teil größer ausfällt als Falks. Aber das spielt überhaupt keine Rolle, das habe ich inzwischen verstanden. Unser Geschenk des Lebens hat eine besondere Dimension. Wir beide denken nicht täglich darüber nach, es ist auch keine Belastung für uns. Bei mir ist es eher eine wohlige Zufriedenheit gepaart mit einem Verantwortungsgefühl für alles Künftige. Und das flüstere ich öfter in etwa so vor mich hin: „Mach was aus deinem Leben, nutze die Zeit, die dir geschenkt wurde.“
Am 23. Juni 2022 feiere ich zum fünften Mal meinen zweiten Geburtstag.
Mehr von der Autorin gibt es hier: Das Zellenkarussell.
Bildquelle: Scott Rodgerson, unsplash