1,6 Millionen Euro – so viel kostet eine Dosis Zynteglo®, ein Medikament gegen Beta-Thalassämie. Warum die Therapie trotz der Kosten allen bisherigen Ansätzen überlegen ist, erfahrt ihr hier.
In Nordeuropa tritt die Thalassämie zwar selten auf, weltweit gesehen ist sie aber eine der häufigsten genetischen Erkrankungen mit über 15 Millionen Personen, die an ihren Symptomen leiden. Dazu kommen 50 bis 100 Millionen sogenannte Träger der Krankheit, die zwar das Krankheitsgen in sich tragen, aber keine Symptome zeigen. Es handelt sich um eine Gruppe von Erbkrankheiten, die auf einem Ungleichgewicht in der Bildung einer der vier Aminosäureketten beruhen, aus denen das Hämoglobin besteht.
Schlagzeilen hat die Gentherapie mit Zynteglo® gemacht: Es handelt sich mit 1,6 Millionen Euro um eines der teuersten Medikamente der Welt.
Hämoglobin besteht aus zwei Paar Globinketten. Erwachsene haben normalerweise ein Paar Alphaketten und ein Paar Betaketten. Manchmal sind eine oder mehrere dieser Ketten genetisch modifiziert. Thalassämien werden nach den jeweils defekten Aminosäureketten in zwei Subtypen eingeteilt: Alpha-Thalassämie, bei der die Alphaglobinkette betroffen ist, und Beta-Thalassämie, bei der die Betaglobinkette betroffen ist.
Die Alpha-Thalassämie ist am häufigsten unter Menschen afroamerikanischer Herkunft verbreitet, während die Beta-Thalassämie vor allem bei Personen aus der Mittelmeerregion und Südostasien auftritt. Thalassämien können nach ihrem Schweregrad wie folgt eingestuft werden:
Alle Arten von Thalassämie haben ähnliche Krankheitsmerkmale, allerdings unterscheiden sich diese in der Heftigkeit.
Bei Alpha-Thalassämie minor und Beta-Thalassämie minor haben die Betroffenen eine leichte Anämie ohne Symptome. Bei Alpha-Thalassämie major treten mittelschwere bis schwere Symptome einer Anämie auf, einschließlich Erschöpfung, Kurzatmigkeit, Blässe und einer vergrößerten Milz, was zu einem Völlegefühl oder Bauchbeschwerden führt.
Bei Beta-Thalassämie major (Cooley-Anämie) treten schwere Symptome einer Anämie auf – wie Erschöpfung, Schwäche und Kurzatmigkeit. Die Betroffenen können auch Gelbsucht, Hautgeschwüre und Gallensteine entwickeln sowie eine vergrößerte Milz aufweisen. Durch die Überaktivität des Knochenmarks vergrößern und verdicken sich manche Knochen, besonders im Kopf und im Gesicht. Die langen Knochen der Arme und Beine werden porös und brechen leicht.
Kinder mit Beta-Thalassämie major wachsen langsamer und erreichen die Pubertät später. Da die Eisenaufnahme gesteigert sein kann und das Angebot an Eisen in jedem Fall durch die benötigten Bluttransfusionen noch erhöht ist, speichert der Organismus das nicht benötigte Eisen im Herzmuskel, was schließlich zur Eisenspeicherkrankheit sowie zu Herzversagen und einem frühen Tod führen kann.
Steckbrief
Name der Erkrankung
Thalassämie
Weitere Namen
Mittelmeeranämie, Leptozytose
(griech. Thalassa = Mittelmehr)
Häufigkeit
heterozygote Beta-Thalassämie: 0,01 %
Gestörte Funktion
Störung der Bildung des normalen Hämoglobins aufgrund einer reduzierten oder fehlenden Globinkettensynthese
Anämie
Iatrogene Eisenüberladung
Orphan drugs
Betibeglogene autotemcel – Zynteglo®
sowie Bluttransfusionen, Eisenchelatbildner
Wirkung
Gentherapie, die das Erbgut von Blutstammzellen verändert
In der klinischen Praxis stehen verschiedene Therapien zur Verfügung, um das Leiden von Thalassämiepatienten zu minimieren. Mögliche Therapien für Thalassämie umfassen konventionelle Maßnahmen wie regelmäßige Transfusionen und Eisenchelatbildner, die pharmazeutische Induktion des γ-Globin-Gens, allogene Transplantation oder eine Einzeldosis-Heilung in Form einer Gentherapie, die keine Immunsuppression erfordert.
Patienten mit Thalassämie major/intermedia benötigen in regelmäßigen Abständen Bluttransfusionen. Die Transfusionshäufigkeit variiert dabei von Person zu Person. Dadurch wird die Lebenserwartung der Patienten um einige Jahre erhöht, da die Funktionsfähigkeit der Organe erhalten bleibt. Allerdings bestätigen Studien, dass regelmäßige Transfusionen zu einer Eisenüberladung im Körper, die sich nachteilig auf Herz und Leber auswirkt, führen können.
Die Eisenüberladung ist die Haupttodesursache bei Patienten mit Thalassämie und kann bei Bluttransfusionen nicht vermieden werden, da zusätzliches Eisen in den Körper des Patienten eingebracht wird, das sich um Organe ansammelt. Besonders die Nieren und das Herz sind betroffen.
Hydroxyharnstoff ist ein preiswertes Medikament, das laut Studien bei bestimmten Patienten mit Thalassämie wirksam ist, um die Häufigkeit der erforderlichen Bluttransfusionen zu reduzieren. Hydroxyharnstoff aktiviert das γ-Globin-Gen und verstärkt die Produktion von fetalem Hämoglobin (HbF).
Zwei α-Ketten verbinden sich mit den γ-Globin-Ketten und bilden HbF, das anstelle des defekten Hämoglobins fungiert. Hydroxyharnstoff erhöht aber nicht nur den HbF-Spiegel, sondern steigert auch den Gesamthämoglobinspiegel im Körper. Seine Wirksamkeit hängt jedoch von der genetischen Disposition des Patienten ab, wie eine Studie bestätigt.
Anders als herkömmliche Arzneimittel, die biochemische Prozesse über die Wechselwirkung mit Proteinen oder Enzymen in den Körperzellen beeinflussen, zielen Gentherapien auf die dauerhafte Korrektur fehlerhafter Erbanlagen ab. Derzeit ist die allogene hämatopoetische Stammzelltransplantation (HSZT) die einzige verfügbare Option mit hoher Heilungsrate. Das Ergebnis der HSZT wird jedoch stark von Faktoren wie dem Alter bei der Transplantation, einer unregelmäßigen Vorgeschichte der Eisenchelation vor der Transplantation, der Histokompatibilität und der Quelle der Stammzellen beeinflusst.
Die Gentherapie mit dem Lentiglobin-Vektor Zynteglo® ist die neueste Methode zur Heilung – ohne Probleme mit Mortalität, Transplantatabstoßung und Klondominanz. Es handelt sich um eine Therapie durch genmanipulierte, patienteneigene, hämatopoetische Stammzellen, denen mit einem lentiviralen Vektor in vitro ein modifiziertes Beta-Globulin-Gen eingepflanzt wurde. Den Zellen, die dazu aufgrund der pathogenen Mutation selbst nicht in der Lage sind, wird somit beigebracht, Beta-Globulin zu produzieren. Dieser zentrale Bestandteil des Hämoglobins fehlt Patienten mit Beta-Thalassämie.
Bei der Gentherapie werden den Betroffenen zunächst Blutstammzellen entnommen. Mithilfe eines Virus wird anschließend das korrekte Gen eingeschleust. Die so modifizierten Stammzellen werden dann wieder injiziert. Bei bestimmten Patienten wurde jedoch über eine verzögerte Blutplättchentransplantation berichtet.
Zugelassen ist die Therapie bei Patienten mit Thalassämie ab 12 Jahren, bei denen die Mutationen des Beta-Globingens eine gewisse Restaktivität der Betaglobinkettensythese erlauben (kein β0/β0-Genotyp) und die für eine hämatopoetische Stammzellen (HSZ)-Transplantation geeignet sind, für die aber kein humaner Leukozyten-Antigen (HLA)-kompatibler, verwandter HSZ-Spender zur Verfügung steht.
Für seinen knapp 1,6 Millionen Euro teuren Gencocktail bietet der Hersteller den Kostenträgern ein erfolgsabhängiges Vergütungsmodell an. Nach einem Erstattungsmodell sind nur 20 Prozent des Gesamtpreises sofort nach Anwendung der Gentherapie fällig. Die restlichen 80 Prozent müssen verteilt über vier Jahre nur bei Therapieerfolg gezahlt werden, also wenn die Patienten tatsächlich nicht mehr auf Transfusionen angewiesen sind. Bei einem kompletten Therapieerfolg nach fünf Jahren betragen die Kosten dann maximal 1,57 Millionen Euro. Der Hersteller beziffert die in Deutschland für seine Gentherapie derzeit infrage kommenden Patienten allerdings auf deutlich weniger als 100.
Genome Editing ist ein neuartiger Ansatz, der zur Behandlung von Patienten mit Thalassämie eingesetzt werden kann. Er verwendet zielgerichtete Nukleasen, um die Mutationen in spezifischen DNA-Sequenzen zu korrigieren und die Sequenz in die normale Wildtyp-Sequenz zu modifizieren. Um das Genom an den erforderlichen Stellen zu bearbeiten, ist CRISPR/Cas9 ein effizientes und genaues Werkzeug, das in verschiedenen gentechnischen Programmen verwendet wird. Weitere, hoffnungsvolle Therapieansätze sind in der Erprobung.
Bildquelle: Jackson Simmer, unsplash.