Missstände in der Pflege sind keine Einzelfälle – sie sind in allen Kliniken präsent. Nur wenige Angestellte trauen sich, diese offen anzusprechen. Die wenigen, die es schaffen, sind Helden.
Manchmal braucht es mutige Menschen, die für ihre Ideale einstehen und dafür auch eigene Nachteile riskieren. Schon Cäsar sagte „Ich liebe den Verrat, aber ich hasse Verräter“. Verräter werden je nach Betrachtung als mutige Helden bewundert, oder als Verpetzer verabscheut. Irgendwann entsteht in irgendeinem das Gefühl, die Wahrheit ans Licht bringen zu müssen. Auf Ungerechtigkeiten, Korruption oder andere Missstände hinweisen zu müssen, in der Hoffnung, dass sich etwas ändert.
Etwa 30 sehr mutige Mitarbeiter einer großen deutschen Klinik haben ihren Mut zusammengefasst, weil sie nicht länger zu den Missständen schweigen konnten. Bevor man über die Inhalte redet, muss man sich klar machen, dass diesen Mitarbeitern nur Nachteile dadurch entstehen. Man kann es diesen Leuten nicht hoch genug anrechnen, dass sie so mutig waren, auf Missstände hinzuweisen, die ihre Klinik und damit auch sie selbst in einem schlechten Licht dastehen lassen. Weil sie es nicht länger mittragen können.
Die Schere zwischen der Außendarstellung („umfassende Versorgung auf Universitätsniveau“) und offensichtlichen Versorgungsdefiziten im Alltag geht immer weiter auseinander – nicht nur in Dachau. Wichtig ist: Diese Probleme sind nicht die Konsequenz von Misswirtschaft oder verfehlter Personalplanung an dieser einen Klinik. Es ist nicht das schuldhafte Verhalten einer einzelnen Person oder einer einzelnen Klinik.
Man könnte Dachau durch Düsseldorf, Magdeburg oder Nürnberg oder „hier könnte Dein Wohnort stehen“ ersetzen. Es ist ein Skandal in Zeitlupe. Der Raubbau an der Medizin, von der Grundversorgung bis zur High-Tech-Medizin durch Spezialisten, betrifft uns alle. Das, was seit Jahren im Gesundheitssystem passiert, ist deshalb ein solcher Skandal, weil dort Eure Gesundheit geopfert wird!
Eure Gesundheit wird verkauft, damit der Staat weniger Kosten hat und die fröhlichen Aktionäre fette Gewinne machen. Man kann mit einem Krankenhaus nämlich auch Geld verdienen, man muss nur skrupellos genug sein. Das immer gleiche Rezept besteht darin, die Kosten oder Ausgaben zu senken, während man hofft, dass die Einnahmen wenigstens gleich bleiben, besser noch steigen. Und Pflege ist in der Sicht von Betriebswirten in erster Linie ein Kostenfaktor. Ärzte können Diagnosen stellen und Interventionen durchführen, die man abrechnen kann. Ärzten kosten also Geld, aber sie bringen auch Geld.
Pflegekräfte kosten auch Geld, können aber keine gewinnbringenden Prozeduren erbringen. In den Augen von BWLern sind sie nur Kostenfaktoren und die gilt es zu beseitigen. Also wurden in den letzten Jahrzehnten immer mehr Stellen für Pflegekräfte abgebaut. Man schätzt heute, dass etwa 80.000 bis 100.000 (!) Stellen für Pflegekräfte fehlen.
Ich habe keine Daten dazu, aber der Anteil der Patienten, die Unterstützung bei der Grundpflege benötigen ist rapide angestiegen. Wir haben heute einen erheblich höheren Anteil multimorbider Patienten, als noch vor 10 oder 20 Jahren. Dafür haben wir weniger Pflegekräfte, die jetzt dieses mehr an Arbeit auffangen müssen. Ein Paradoxon, das nicht funktionieren kann.
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Es führt dazu, dass immer mehr Pflegekräfte komplett überarbeitet und überfordert sind. Das Arbeitspensum ist schlicht nicht machbar. Überarbeitete Pflege bedeutet, dass Verbände zu selten gewechselt werden, dass Medikamente vertauscht werden, dass Warnkriterien wie veränderte Vitalparameter nicht mehr rechtzeitig wahrgenommen werden. Überarbeitete Pflege bedeutet auch, dass Menschen Hunger, Schmerzen oder Durst haben und niemand kommt.
Das alles passiert. Und zwar nicht nur in Dachau, sondern so oder ähnlich in jeder Klinik. Die Probleme sind überall die gleichen, aber niemand will sich die Finger verbrennen. Keine Klinik will die erste sein, die untergeht.
Patienten, insbesondere junge, gesunde oder noch besser privat versicherte Patienten, sollen sich wohl fühlen. Deshalb werden sogenannten Komfortstationen gebaut und öffentlichkeitswirksam vorgestellt. Da kommen ohnehin nur privat versicherte Patienten hin oder solche, die eine Zuzahlung wählen. Vor allem geht es aber um schöne Bilder für die Öffentlichkeitsarbeit.
Die sollen junge, relativ gesunde Patienten anlocken. Die versorgen sich weitestgehend selbst, sind zufrieden, wenn es WLAN gibt. Alte oder multimorbide Patienten hingegen kosten nur Geld, weil sie häufiger Komplikationen haben und weil sie aufwändig in der Versorgung sind. Es gibt Kliniken hier im Umland, die Patienten für Elektivoperationen wie zum Beispiel Leistenhernien oder Prothesenimplantationen ablehnen, wenn sie bestimmte Kriterien nicht erfüllen.
Das dürfen diese Kliniken, weil es keine Notfälle sind. BMI über 35 und Sie möchten ein neues Knie? Abgelehnt. Sechs Medikamente, Blutverdünner, Diabetes und Leistenhernie? Abgelehnt. Meist werden fadenscheinige Gründe gewählt, oder OP-Termine in 14 Monaten angeboten (und dann abgesagt falls jemand doch mal auf die irre Idee kommt so lange zu warten). Ich könnte das noch weiter ausschmücken, es ist ein fieses Geschäft, was da hinter den Kulissen läuft. Meistens gelingt es den Kliniken ganz gut, diese Machenschaften geheim zu halten und vor allem die offenkundigen Defizite, die durch fehlende Pflegekräfte bestehen, zu vertuschen. Nicht so in diesem Fall.
Die Süddeutsche Zeitung berichtete über den Streik in Dachau. Sie schreibt: „Eine Krankenschwester, die ihren Namen nicht in der Zeitung lesen will, erzählt von Patienten, die nicht gewaschen oder gefüttert werden könnten, weil die Zeit dafür nicht reiche. Manche Kranke bekämen ihre Medikamente nicht rechtzeitig. Auf manchen Stationen müssten Coronakranke zusammen mit Covid-Negativen behandelt werden. „Diese Pflege ist gefährlich“, sagt die Frau, die Repressalien ihres Arbeitgebers befürchtet.
Die geschilderten Vorfälle sind typisch. An allen Kliniken, an denen ich bis jetzt gearbeitet habe, hätte das so passieren können. Und es passiert – nichts. Während meiner Tätigkeit in der letzten Klinik, wurden Überlastungsanzeigen geschrieben. Das ist eine Möglichkeit, dem Arbeitgeber zu sagen „Wir können nicht mehr!“, die Patienten sind akut gefährdet. Dem muss der Arbeitgeber nachgehen. Nachdem die Pflegekräfte der Intensivstation solche Überlastungsanzeigen verfasst haben, wurden sogenannte Fürsorgegespräche geführt.
In einem Fürsorgegespräch erkundigte sich die Pflegedienstleitung vordergründig freundlich nach dem Wohlergehen jedes Einzelnen. Es wurde unmissverständlich klar gemacht, dass nicht das Arbeitspensum, sondern die einzelnen Mitarbeiter das Problem sind. Dass sie dem Stress nicht gewachsen sind. Die Schuld wurde bei den Einzelnen gesucht, statt gemeinsam nach Lösungen zu suchen, wie man die viele Arbeit auf mehr Schultern verteilen kann. Ähnlich zynisch wie diese „Fürsorgegespräche“ ist die lächerliche, aber geradezu typisch relativierende Reaktion der Klinik.
Im Artikel berichtet die SZ: „Das Klinikum widerspricht. Es handle sich, so die Kliniksprecherin Pia Ott, um ‚Vorwürfe Einzelner, die nicht den Tatsachen entsprechen und die von dem Großteil der Belegschaft nicht geteilt werden‘. Insgesamt kümmersten sich 500 Pflegekräfte [...] um die Patienten. Am Tag der Pflege habe sich die Klinikleitung bei einem mehrstündigen Rundgang persönlich bei den Pflegekräften bedankt. Auf einem Foto sieht man Mitarbeitende gemeinsam mit ihren Vorgesetzten, die offenbar geschenkte Socken mit dem Helios-Logo in die Kamera halten.“
Ja, es sind nur 30 Mitarbeiter. Aber es sind deshalb nur 30, weil die anderen Angst haben ihren Job zu verlieren oder andere persönliche Nachteile zu kassieren. Und ich kann das sehr gut verstehen. Viele hängen an ihrem Job, an ihren Kollegen und auch an ihren Patienten. Außerdem kann eine Pflegekraft, die vielleicht eine kliniknahe Wohnung hat, nicht mal eben den Arbeitsort wechseln, weil viele nicht mal ein Auto haben und auf den ÖPNV angewiesen sind.
Besonders zynisch ist der Kommentar der Kliniksprecherin zu den Socken. Die Socken mit dem beliebten Kliniklogo seien gut angekommen. Da möchte ich brechen. Wenn sie wirklich glaubt, dass sich irgendjemand über diese billigst produzierten Schweißfänger „freut“, dann muss ich sehr an ihrer Zurechnungsfähigkeit zweifeln.
Solange aber immer wieder nur beschwichtigt, beschönigt und relativiert wird, ändert sich nichts. Genau dieses verlogene Beschönigen der Kliniksprecherin halte ich daher für eine wesentliche Ursache der Problematik. Wir bräuchten diese Kliniksprecher, um in ehrlichen Worten unbeschönigt zu sagen, wie sehr die Kliniken am Limit arbeiten. Wir brauchen Euch um uns den Rücken zu stärken, nicht um uns in den Rücken zu treten. Ihr wisst genau, was in der Klinik los ist. Und wenn ihr es wirklich nicht wisst, dann bemüht euch darum, es rauszufinden. Zum Beispiel durch anonyme Befragungen, denn viele Mitarbeiter haben mittlerweile Angst vor den Stationsleitungen und den Pflegedienstleitungen. Aber hört auf mit diesen verlogenen Außenauftritten, den Beschwichtigungen. Sagt, was ist. Nehmt Kontakt mit Journalisten auf, das geht auch anonym.
Und falls Du ein junger Typ mit 25 bist und voll im Saft stehst und Dir denkst: „Ja Pech, müssen die Leute halt mehr Sport machen, damit sie so gesund sind wie ich“ – ich will dir sagen, das kann man als 25-jähriger noch denken, aber du wirst älter und ich habe viele junge Menschen gesehen, die morgens noch gefrühstückt haben und nachmittags mit einem hohen Querschnitt nach einem Unfall in der Klinik lagen.
Ein kurzer Moment eines Augenblinzelns, ein einziger Schicksalsschlag und jeder kann pflegebedürftig werden. Eine Thrombose, ein Schlaganfall und schon ist man pflegebedürftig und fällt durch alle Raster. Das Thema geht also uns alle an.
Daher: Volle Solidarität mit den mutigen Kollegen!
Weil es uns alle betrifft.
Bildquelle: Hamid Tajik, unsplash