Hochverarbeitete Lebensmittel sitzen schon lange auf der Anklagebank. Ihnen wird vorgeworfen, besonders gesundheitsschädlich zu sein – aber ist das auch berechtigt? Wir haben beim Experten nachgefragt.
Sie machen dick, verursachen Krankheiten und geben unserem Körper nicht, was er braucht: Die Rede ist von hochverarbeiteten Lebensmitteln – der Buhmann der Ernährungsexperten. Mittlerweile ist ein großer Teil der Lebensmittel in unseren Supermärkten verarbeitet oder hochverarbeitet. Schon 2009 wurde das oft in der Wissenschaft verwendete NOVA-System eingeführt und damit die Botschaft verbreitet, dass ein Lebensmittel mit jeder Verarbeitungsstufe ungesünder wird.
Im NOVA-System gibt es 4 Verarbeitungsstufen, die von natürlichen/unverarbeiteten Lebensmitteln zu hoch verarbeiteten Lebensmitteln, sogenannten „highly processed foods (HPFs)“, reichen. Dabei gelten Lebensmittel als verarbeitet, wenn sie durch Methoden wie Kochen, Backen, Fermentieren oder Konservieren bearbeitet wurden. Man kann sich vorstellen, dass viele Lebensmittel dazugehören. Dementsprechend raten viele Ärzte ihren Patienten gänzlich davon ab, hochverarbeitete Lebensmittel zu konsumieren.
In der heutigen Informations-, Werbungs- und Nahrungsmittelflut ist es wichtig, Menschen eine wissenschaftlich fundierte Einschätzung geben zu können, was gut für den Körper ist und was nicht. Für den Anfang reicht ein Blick in unsere Lebensmittelregale: Ein sehr großer Anteil unserer Lebensmittel ist verarbeitet oder hochverarbeitet – darin sind sich Lebensmittelexperten einig. Doch es herrscht Uneinigkeit darüber, was den genauen Einfluss dieser Lebensmittel auf den menschlichen Körper betrifft. Sind chemische Zusatzstoffe wirklich giftig? Wie viel kann man von ihnen zu sich nehmen ohne mit gesundheitlichen Nachteilen leben zu müssen? Und sollte man lieber doch ganz drauf verzichten, Stichwort: Clean Eating?
Selbst Ärzte blicken bei dieser Flut an Fragen manchmal nicht mehr durch, dabei sollen sie ihren Patienten helfen und sie richtig beraten. Fest steht, dass es in HPFs an Vitaminen und Ballaststoffen fehlt. Gleichzeitig enthalten sie hohe Mengen an Transfetten, Zucker sowie Salz und oft sind künstliche Zusatzstoffe wie Farbstoffe, Geschmacksverstärker und Stabilisatoren zugesetzt. Klingt erstmal alles nicht so gesund. Die Studienlage gibt ein mehr oder weniger klares Bild – was jedoch Raum für Kritik lässt.
Eine aktuelle Studie wies zum Beispiel nach, dass das Risiko für Fettleibigkeit bei Jugendlichen, die sich von extrem verarbeiteten Lebensmitteln ernähren, um 45 % erhöht ist. Eine weitere Untersuchung ergab, dass der Verzehr vieler ultraverarbeiteter Lebensmittel eine erhöhte Sterblichkeit birgt. Außerdem wurde dieses Jahr eine Metastudie veröffentlicht, die einen positiven Zusammenhang zwischen dem Verzehr von ultraverarbeiteten Lebensmitteln und der arteriellen Hypertonie festgestellt hat. Diese Liste könnte man lange weiterführen, denn alleine in Pubmed ergibt die Suche nach „processed foods“ 17.531 Ergebnisse – und es kommen laufend neue Studien dazu.
Also ein gut untersuchtes Feld, was die Lebensmittel der NOVA-Stufe 4 und weitere verarbeitete Lebensmittel klar als ungesund einstuft? Sollten Ärzte Patienten vor den „ungesunden“ HPFs warnen? Der Ernährungsmediziner Dr. Matthias Riedl schreibt in seinem Buch: „Die negativen Folgen für unsere Gesundheit fallen umso drastischer aus, je länger der Zeitraum ist, indem wir die entsprechenden Produkte essen und je stärker diese verarbeitet sind. Das heißt umgekehrt, solche Produkte vom Speiseplan zu streichen und etwa durch Rohkost zu ersetzen ist die effektivste ernährungsmedizinische Maßnahme überhaupt.“
Martin Smollich, Professor am Institut für Ernährungsmedizin und Leiter der Arbeitsgruppe Pharmakonutrition am UKSH, Campus Lübeck, würde das nicht tun. Er sieht die heutige Position zu verarbeiteten Lebensmitteln kritisch. „Es ist nicht plausibel zu sagen, dass jedes hoch verarbeitete Lebensmittel immer per se gesundheitsschädlich ist“, sagt der Ernährungswissenschaftler. „Es handelt sich hier um eine riesengroße Gruppe an unterschiedlichsten Lebensmitteln mit sehr vielen verschiedenen Zusatzstoffen. Die kann man nicht alle pauschal über einen Kamm scheren.“
Er sieht ein großes Problem darin, aus Ernährungsstudien, die Korrelationen nachweisen, Kausalitäten zu schließen. Oft sei es schwer zu trennen, welche der gesundheitlichen Nachteile durch die jeweiligen Lebensmittel verursacht werden und welche Resultat des restlichen Lebensstils sind. Menschen, die sehr viel hochverarbeitete Lebensmittel essen, hätten auch insgesamt einen eher ungesunden Lebensstil. Das sei einer der Gründe, weshalb sich aus den meisten Studien nur bedingt Schlüsse ziehen lassen.
Zu diesem Ergebnis kommt auch eine Übersichtsarbeit zur Differenzierung der Beurteilung von HPFs. Die Autoren schreiben: „Wenn die Ernährungsberatung den Grad der Lebensmittelverarbeitung als wichtigen Zusammenhang zwischen Ernährung und Gesundheit berücksichtigen will, müssen bestimmte Forschungslücken anerkannt werden.“ Sie kritisieren, dass es verschiedene Klassifizierungssysteme – wie das NOVA-System und das UNC-System – für HPFs gibt, die erhebliche Unterschiede für die Auswirkungen dieser Lebensmittel auf die Gesundheit zeigen und verschieden Definitionen für HPFs geben. „Eine hohe Priorität hat jetzt die Klärung der Definitionsgrundlage für die Einstufung von Lebensmitteln als hochverarbeitet und die Unterscheidung zwischen den Auswirkungen von Nährstoffen, Zusatzstoffen und sensorischen Eigenschaften zur Gesundheit in einem konstruktiven Sinne.“
Eine der Hauptforderungen dieser Arbeit besteht also darin, den Begriff hochverarbeitetes Lebensmittel neu zu definieren. Damit kann die Nährstoffdichte des Lebensmittelangebots erhöht und gleichzeitig der Einsatz potentiell gesundheitschädlicher Nährstoffe reduziert werden. Hier stimmt auch Prof. Martin Smollich zu. Laut seiner Einschätzung liegen die Gründe für Gesundheitschädigungen weniger bei den Zusatzstoffen, sondern mehr bei den Stoffen, die nicht enthalten sind. „Wenn man hochverarbeitete und frische Lebensmittel vergleicht, sieht man, dass bei den hochverarbeiteten viele gesundheitsförderliche Stoffe nur sehr wenig oder gar nicht enthalten sind: Ballaststoffe, Proteine, Mikronährstoffe oder auch sekundäre Pflanzenstoffe“, erklärt Smollich. „Eine Ernährungsweise mit vielen hochverarbeiteten Lebensmitteln ist vielleicht auch einfach deshalb ungesund, weil dadurch zu wenig an diesen gesundheitsförderlichen Inhaltsstoffen aufgenommen wird.“
Außerdem sei in Klassifizierungssystemen – wie dem NOVA-System – nicht berücksichtigt, dass Lebensmittel durch Verarbeitung auch in ihrem Nährstoffprofil verbessert werden können. Man könne Lebensmittel beispielsweise mit Vitaminen, Ballaststoffen und Omega-3-Fettsäuren anreichern. Dadurch habe dann das verarbeitete Lebensmittel mehr Inhaltsstoffe als das Ausgangsprodukt – was es eben nicht automatisch schlechter macht. „Wenn man zum Beispiel ein Steak mit einer veganen Alternative vergleicht, dann enthält diese hochwertiges Protein aus Hülsenfrüchten, Ballaststoffe, wenig gesättigte Fettsäuren und kein Cholesterin“, sagt Smollich. „Das Nährstoffprofil muss also nicht schlechter sein nur, weil das Lebensmittel mehr Zutaten hat. Gerade beim Blick auf vegane Fleischalternativen ist die Diskussion oft verzerrt: Es wird auf die hochverarbeitete Tofuwurst geschimpft, aber gleichzeitig vergessen, dass auch eine traditionelle Currywurst hochverarbeitet ist.“
Trotzdem sagt auch er, dass es Zusatzstoffe gibt, bei denen man nicht sicher sein kann, ob sie gesundheitsschädlich sind. Beispiele sind Stoffe wie die Carboxymethylcellulose, die häufig in Fleischalternativen vorkommt, und Maltodextrin, das als Fettersatz oder als Streckmittel in Light-Produkten Anwendung findet. „Man muss aber beachten, dass es sich bei den Zusatzstoffen, um geprüfte Stoffe handelt. Sie haben das Zulassungsverfahren der EFSA durchlaufen und wurden dabei toxikologisch von vorne bis hinten geprüft“, sagt der Ernährungswissenschaftler. „Natürlich kann sich die Datenlage ändern und es kommt zu einer Anpassung der Empfehlungen. Aktuelles Beispiel dafür ist die Rücknahme des weißen Lebensmittelpigments Titandioxid. Trotzdem braucht man keine Angst haben, wenn man gelegentlich hochverarbeitete Produkte isst.“ Als Faustregel könne man sagen, dass wenn man auf die Inhaltstoffe guckt und Substanzen findet, die man nicht in der Küche stehen hat, solle man diese weniger essen.
Den Trend zum „Clean Eating“, sieht Martin Smollich aus ernährungsmedizinischer Sicht also sehr kritisch. Hier verzichtet man vollständig auf verarbeitete Produkte. „Man kann nicht sagen, dass Lebensmittel die mehr als 5 Zutaten enthalten ungesund sind. Wenn man alle Inhaltsstoffe eines Apfels auf ihn draufschreiben würde, würde ihn niemand mehr essen, weil es ein Chemikaliencocktail ist. Das sind aber alles natürliche Chemikalien“, erklärt der Ernährungswissenschaftler. „Genauso kann man nicht sagen, dass ein bestimmtes Lebensmittel generell gesund oder ungesund ist. Es kommt immer drauf an wodurch man was ersetzt. Zum Beispiel: Wenn man Fleisch durch einfache Kohlenhydrate aus Weißbrot und Pasta ersetzt, bringt das keinen Gesundheitsvorteil. Isst man statt Fleisch aber eine vegane Alternative auf Erbsen-Soja-Basis, sieht es vermutlich anders aus.“
Laut Experten bedarf es also einer neuen Definition der hochverarbeiteten Lebensmittel und mehr analytischen Studien zu dem Thema. Damit ließe sich auch die ärztliche Ernährungsberatung verbessern.
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