Die Ursachen des plötzlichen Kindstods sind bisher weitestgehend unbekannt. Forschungsergebnisse liefern jetzt Hinweise auf einen möglichen Biomarker. Können Ärzte so in Zukunft gefährdete Kinder erkennen?
Viele frisch gebackene Eltern haben Angst vor ihm: dem plötzlichen Kindstod (sudden infant death syndrome; SIDS). Bis dahin gesunde Kinder versterben plötzlich im Schlaf – oftmals ohne erkennbare Ursache.
Unterschiedlichsten Maßnahmen wird nachgesagt, dass sie das Risiko eines Säuglings, an SIDS zu versterben, senken können: Stillen, Schlafen in Rückenlage, das Tragen eines Schlafsacks statt das Liegen unter einer Decke und das Schlafen im elterlichen Zimmer, dafür aber im eigenen Bettchen. Die Liste könnte noch lange fortgeführt werden. Fakt ist: Die Ursachen für das SIDS sind nicht genau bekannt – und es stellt hierzulande weiterhin die häufigste Todesursache im ersten Lebensjahr eines Kindes dar.
Einzelne Risikofaktoren konnten bisher nicht wissenschaftlich beschrieben werden. Vielmehr geht man gegenwärtig davon aus, dass SIDS ein multifaktorielles Geschehen ist. Das am weitesten akzeptierte Modell beschreibt drei ungünstige Faktoren, die bei den betroffenen Kindern gleichzeitig zusammenkommen: ein gefährdeter Säugling, eine kritische Entwicklungsphase und ein exogener Stressor. Trotz intensiver Forschung ist es aber bisher nicht gelungen, gefährdete Kinder im Vorhinein identifizieren zu können.
Die Biochemikerin Dr. Carmel Therese Harrington verlor selbst ein Kind durch SIDS und startete eine Crowdfunding-Kampagne, um verstärkt an den möglichen Ursachen forschen zu können. Nun veröffentlichte sie zusammen mit ihren Kollegen ihre Ergebnisse im Fachmagazin The Lancet eBioMedicine.
Bisher galt eine gestörte Funktion des aufsteigenden retikulären Aktivierungssystems (ARAS) als mögliche Ursache für den plötzlichen Kindstod. Bei Hypoxie wird der Organismus normalerweise durch eine Aktivierung autonomer und motorischer Systeme von einem Ruhezustand in einen Zustand erhöhter Aufmerksamkeit versetzt. Der Körper reagiert also mit einer Alarm- bzw. Aufwachreaktion. Dies bleibt aber bei betroffenen Kindern aus. Auch eine gestörte Funktion des Atemzentrums der Medulla oblongata wird diskutiert.
Harrington und ihr Team sehen als Auslöser eine autonome cholinerge Dysfunktion. Der Grund: eine verminderte Aktivität der Butyrylcholinesterase (BChE). Sie könnte den Wissenschaftlern zufolge als Biomarker für ein bestehendes erhöhtes Risiko herangezogen werden. Um zu verstehen, wie die australischen Forscher auf das Enzym kamen, hilft ein Blick auf die Physiologie.
Acetylcholin (ACh) ist ein wichtiger Neurotransmitter des autonomen Nervensystems. Es wird an Synapsen durch zwei Enzyme hydrolysiert,die Acetylcholinesterase (AChE) und die Butyrylcholinesterase (BChE, auch Pseudocholinesterase). AChE und BChE modulieren somit die cholinerge Aktivität in Geweben und bestimmen die Konzentration des wichtigsten Neurotransmitters des parasympathischen Nervensystems. Die Cholinesterasen sind in fast allen Geweben des Körpers vorhanden, wobei ihre Aktivität je nach Gewebe variiert.
Harrington schreibt in ihrem Paper: „Abweichende Konzentrationen von AChE und BChE wurden schon vorher bei parasympathischen Funktionsstörungen beschrieben und die Nutzung der Enzyme als Biomarker für cholinerge Defizite, parasympathische Funktionsstörungen sowie für entzündungsbedingte Erkrankungen wurde bereits von anderen Forschungsgruppen vorgeschlagen.“
Die Wissenschaftler untersuchten nun also in ihrer Fall-Kontroll-Studie Blutproben, die routinemäßig nach der Geburt entnommen wurden, auf die Aktivität von BChE. Die Wahl fiel auf BChE und nicht AChE, da sich dieses in den für die Proben entnommenen, getrockneten Blutstropfen besser nachweisen ließ.
Insgesamt konnten die Proben von 56 verstorbenen Kindern (26 hiervon an SIDS und 30 an anderen Ursachen verstorben) sowie 545 Kontroll-Proben in die Analysen einbezogen werden. Die Forscher wollten herausfinden, ob Säuglinge, die an SIDS verstarben, zum Zeitpunkt der Geburt bereits veränderte BChE-Aktivitätswerte aufwiesen, so dass die Aktivität dieses Enzyms als Biomarker für die Feststellung der Anfälligkeit eines Säuglings für SIDS herangezogen werden kann.
Tabelle 1: Spezifische Aktivität der Butyrylcholinesterase (U/mg) bei SIDS- und Nicht-SIDS-Fällen und den entsprechenden Kontrollen.
Spezifische Butyrylcholinesterase-Aktivität (U/mg) bei Säuglingen, die als Fälle von Plötzlichem Kindstod (SIDS) und Nicht-SIDS (andere Ursachen) klassifiziert wurden, und den mit ihrem Geburtsdatum und Geschlecht übereinstimmenden Kontrollen (SD = Standardabweichung). Mittels bedingter logistischer Regression wurden Odds Ratio (OR) pro U/mg Butyrylcholinesterase-spezifische Aktivität (BChEsa), OR 95% Konfidenzintervalle (95% CI) und P-Werte berechnet. Credit: Harrington et al.Und tatsächlich: Ein erniedrigter BChEsa-Wert (Butyrylcholinesterase-spezifische Aktivität) schien bei den Kindern mit dem frühen Versterben assoziiert zu sein. In der Gruppe mit nicht-SIDS assoziierten Todesfällen ergab sich kein Hinweis auf einen Zusammenhang zwischen BChEsa und dem Versterben der Kinder. Außerdem schreiben die Autoren: „Weder in den univariablen noch in den multivariablen Modellen gab es Hinweise auf einen Zusammenhang zwischen einem der Prädiktoren (BCHEsa, Geschlecht und Todesursache) und dem Alter beim Tod.“
Der Plötzliche Kindstod wird definiert als Tod bei dem „nach gründlicher Untersuchung der örtlichen Gegebenheiten und der Autopsie keine Todesursache gefunden wird“. Harrington schreibt in ihrer Veröffentlichung: „Ziel dieser Klassifizierungen war es, den Forschern bei der Suche nach möglichen Ursachen zu helfen und schließlich einige Todesfälle als Folge bestimmter Ursachen oder Krankheitskategorien neu zu klassifizieren“. Bisher werden etwa 10 % der SIDS-Todesfälle auf Herzrhythmusstörungen aufgrund von Anomalien der kardialen Ionenkanäle zurückgeführt. Sollten sich Harringtons Ergebnisse in künftigen Studien bestätigen lassen, könnte das Team eine neue zusätzliche Kategorie bzw. Ursache für SIDS gefunden haben.
Die Funktion von BChE sei bisher nicht gut verstanden und würde teilweise als physiologisch irrelevant angesehen, schreibt Harrington in der Diskussion ihres Papers. Mehrere Studien hätten aber mittlerweile ergeben, dass eine niedrige BChE-Aktivität mit schweren systemischen Entzündungen einhergehen kann und es würde angenommen, dass eine niedrige BChE-Aktivität eine verringerte Verfügbarkeit von ACh und damit eine veränderte cholinerge Homöostase zur Folge habe.
Weitere Studien müssten nun zeigen, ob die verringerte BChE-spezifische Aktivität, die Harrington und ihre Kollegen in den SIDS-Proben aus dem peripheren Blut der Kinder gemessen haben, auch im Gehirn zu beobachten seien. BChE könne möglicherweise eine Rolle bei der Aufrechterhaltung des ACh-Spiegels im Gehirn spielen und in den Erregungssystemen des zentralen Nervensystems (ZNS) beteiligt sein.
Zur Originalpublikation kommt ihr hier.
Bildquelle: Michal Lomza, unsplash