Ärzte haben ein erhöhtes Risiko für Suizid und Suchterkrankungen – die Ursachen sind zahlreich. Was kann man tun, um die psychische Gesundheit trotz hoher Belastung aufrechtzuerhalten?
Zwischen Bürokratisierungswahn, Kostenoptimierungen und dem alltäglichen Arbeitsirrsinn ist es nicht verwunderlich, dass es um die mentale Gesundheit unter Ärzten nicht optimal bestellt ist. Eine Studie aus Vor-Pandemie-Zeiten fand bei rund 70 % der befragten jungen Ärzte Burnout-Symptome. Die zusätzlichen Arbeitsbelastungen in der Corona-Pandemie dürften die Zahlen nicht nur beim Nachwuchs weiter nach oben getrieben haben. Trotzdem schockieren die Zahlen ein wenig, mit denen Dr. Bastian Willenborg seinen Vortrag auf der DGIM 2022 eröffnet: „15–20 % unserer Patienten in Kliniken sind Ärzte mit psychischen Erkrankungen.“ Der Psychiater und Psychotherapeut arbeitet in der privaten Klinikgruppe Oberberg. Im Rahmen des Kongresses berichtete er über die überproportionale Gefährdung und gab Tipps, was Ärzte für ihre eigene mentale Gesundheit tun können.
Zwar ist die Sorge für die eigene Gesundheit seit 2017 sogar Teil des Genfer Gelöbnis, doch ist es um die Umsetzung dieses Vorsatzes nur mäßig gut bestellt. „Wer von Ihnen hier geht regelmäßig zur Vorsorgeuntersuchung? […] Wer setzt die gleichen Standards an sich selbst, wie er das an seine Patienten tut?“, fragt Willenborg in die Runde. „Wenn Sie eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung ausstellen, überlegen Sie: Würde ich mich selber mit einer vergleichbaren Symptomatik arbeitsunfähig melden?“ Die Frage zieht ein etwas schuldbewusstes Kopfschütteln im Saal nach sich.
Das Thema ist nicht neu: Eine Umfrage des Marburger Bundes zeigte 2019, dass sich nur rund ein Viertel der befragten Ärzte gut um die eigene Gesundheit kümmert, der Rest gesteht Verbesserungsbedarf ein. 11 % gehen nach eigener Aussage sogar sehr nachlässig mit ihrer Gesundheit um.
Das betrifft nicht nur die physische Gesundheit, auch die Psyche ist betroffen. „Ärzte suizidieren sich häufiger als die Allgemeinbevölkerung – bei Männern ungefähr um den Faktor 2, bei Frauen um den Faktor 4“, stellt Willenborg fest. Ein weiteres Problemfeld: „Ärzte tendieren dazu, häufiger abhängig zu werden, als die Allgemeinbevölkerung.“ Die Lebenszeitprävalenz für Suchterkrankungen liege in der Berufsgruppe bei knapp 10 %. Dabei geht es selten um illegale Drogen; bei Ärzten stehe seiner Erfahrung nach der Missbrauch von Alkohol, Opioiden und Benzodiazepinen im Vordergrund.
Gründe dafür gibt es viele: Einerseits sind Medikamente für medizinisches Personal deutlich leichter zu bekommen; andererseits birgt die medizinische Profession eine ganze Reihe Stressoren, die in einer psychischen Erkrankung kulminieren können. Offensichtlich zollen lange Arbeitszeiten und Freizeitmangel ihren Tribut. Das Privatleben muss gegenüber beruflichen Verpflichtungen oft zurückstecken, was dazu führen kann, dass persönliche Interessen und auch Beziehungen vernachlässigt werden. So fallen Ressourcen weg, die einem eigentlich Kraft geben könnten und sollten.
Verstärkt wird die Arbeitsbelastung noch durch die ungünstigen Rahmenbedingungen. In einer Befragung, die Willenborg vorstellt, gaben fast 60 % der Ärzte Bürokratie und Verwaltungsaufwand als den häufigsten Stressfaktor an. Dadurch bleibt nicht genügend Zeit für die Patienten – die Fließbandmedizin wird häufig moniert – und auch Ausbildungsstrukturen bleiben auf der Strecke. „Die Kostenträger zahlen zigtausend Euro für Gerätemedizin, wenig für ‚Erzählmedizin‘ und gar nichts für Ausbildung. […] Das ist ein Problem in unserem Gesundheitssystem“, kritisiert der Psychiater.
Bestimmte, unter Ärzten verbreitete Persönlichkeitsmuster (eine „überproportional ausgebildete Anstrengungsbereitschaft“ beispielsweise, oder eine gewisse Neigung zur Selbstüberschätzung), zwischenmenschliche Faktoren (Mangel an Wertschätzung und Unkollegialität) und die tägliche Konfrontation mit menschlichem Leid machen das belastende Paket komplett. Der Nimbus, der den Arztberuf umgibt, macht es dann auch nicht leichter, sich Hilfe zu suchen – viele wollen die Fassade um jeden Preis aufrecht halten.
Mehr als genügend Anhaltspunkte um festzustellen: „Der Arztberuf ist – auch gerade im Vergleich zu anderen Berufen – gesundheitsgefährdend.“ Umso wichtiger für Ärzte, ein Auge auf die eigene mentale Gesundheit zu haben und Vorkehrungen zu treffen.
Ein Baustein: Eine stabile Beziehung zu den Kollegen, die auf Geben und Nehmen basiert, ist ein guter Stresspuffer. „Die meiste Zeit des Tages sind wir auf der Arbeit, mit unseren Kollegen in der Praxis, mit den Mitarbeitern. Da ist es sehr wichtig, dass das gut funktioniert.“ Dazu gehörten ein offener Umgang mit Fehlern, Zweifeln und Wissenslücken, aber auch das Setzen klarer Grenzen und gegenseitige Wertschätzung der Arbeit.
Genauso wichtig ist aber auch das Pflegen außerberuflicher Beziehungen und Interessen. Sich zu sehr über das eine Standbein Beruf zu definieren ist – ganz unabhängig von der Profession – riskant. „Natürlich ist unser Job toll, die allermeisten machen ihn ja wirklich gerne und legen auch viel Energie in diesen. Wenn dann aber aus irgendwelchen Gründen der Beruf nicht mehr funktioniert, haben wir gar nichts mehr“, so Willenborg.
Zuletzt ist auch Introspektion gefragt. Der Psychiater rät Ärzten, auf Erschöpfungssignale zu achten und diese nicht zu ignorieren. Auch Selbstreflektion – wo stehe ich, wo möchte ich hin – hilft. Auch wenn es banal klingt, ist auch die Aufrechterhaltung der körperlichen Basisversorgung nicht zu vergessen: Schlaf, Bewegung und die Nahrungsaufnahme sollten nicht vernachlässigt werden. „Ich kenne viele Kollegen, die nie Mittagessen gehen“, mahnt Willenborg. Auch Selbstdiagnosen oder gar Selbsttherapien sind keine gute Idee.
Nach Möglichkeit sollte man auch auf seine Kollegen ein Auge haben. Es gebe viele Faktoren, die Hinweise auf eine angeschlagene Psyche sein könnten. „Häufig hat das mit [Verhaltens]veränderungen zu tun.“ Beispiele sind zurückgezogenes Verhalten, vermehrte Missgeschicke oder Unfälle, nachlassende Arbeitsqualität oder unübliche Unpünktlichkeit. Mache man sich Sorgen um einen Kollegen, sei es sehr wichtig, dies offen anzusprechen und nicht aus Scheu, übergriffig zu wirken, zu ignorieren. Entscheidend sei dabei, das Gespräch empathisch, nicht wertend und auf Augenhöhe anzugehen.
Zusammenfassend also: Das Gesundheitsrisiko, dass vom Arztberuf ausgeht sollte nicht unterschätzt werden, und es gibt eine Menge Fallstricke zu vermeiden. Aber das ist natürlich nur eine Seite der Medaille. Auf der anderen Seite betont Willenborg auch noch einmal: „Der Arztberuf ist toll!" Er sei gerne Arzt, denn es sei trotz allem ein Beruf, der Spaß macht, der abwechslungsreich ist – und durch die Gewissheit, etwas Sinnvolles zu tun, auch viel Gratifikation ermöglicht. Passend dazu eine kleine Anekdote Willenborgs: In der Anfangszeit der Pandemie habe er im Beratungsgespräch viele Menschen aus dem Banken- oder Versicherungsbereich kennengelernt, bei denen das plötzliche Bewusstsein, nicht als „systemrelevant“ zu zählen, eine Sinnkrise ausgelöst hat – einem Arzt wird das sicher nie passieren.
„Es gibt ganz viele Bereiche, die es schön machen, Arzt zu sein. Nur sich selbst behandeln, das sollte man nicht!“
Bildquelle: Anne Nygård, unsplash