Nach einem Schlaganfall können benachbarte Hirnregionen Funktionen des zerstörten Gewebes ausgleichen. Wie genau das funktioniert, war bisher unbekannt. Forscher fanden jetzt einen molekularen Mechanismus, der den neuronalen Umbau erst möglich macht.
Schlaganfälle sind eine sehr häufige Todesursache sowie die Hauptursache für Behinderungen im Erwachsenenalter. Etwa 40 % der Überlebenden leiden drei Monate nach dem Vorfall noch immer an schweren bis mittelschweren Beeinträchtigungen, weil Nervengewebe in der vom Infarkt betroffenen Hirnregion unwiederbringlich verloren ist. Je nach Schwere des Infarkts setzen jedoch Reparaturmechanismen ein, die Gehirnfunktionen in Teilen oder sogar vollständig wiederherstellen können. Dies erfordert allerdings weitreichende Umgestaltungen neuronaler Netzwerke. Dieser Mechanismus ist bis heute wenig erforscht.
Am Universitätsklinikum Jena erforschen die Arbeitsgruppen um Prof. Dr. Britta Qualmann und Dr. Michael Kessels seit langem, wie die Entwicklungen und Vernetzungen von Nervenzellen im sich entwickelnden Gehirn ablaufen. Mit ihren Ergebnissen konnten die Teams zum Verständnis der zellbiologischen Gestaltbildungsprozesse in der frühen neuronalen Entwicklung beitragen. „Es lag also nahe, sich zu fragen, ob Nervenzellen im voll entwickelten, erwachsenen Gehirn nach einem Schlaganfall irgendwie Fähigkeiten wieder erlangen könnten, die wir von Entwicklungsprozessen im frühesten Kindesalter kennen und ob diese dann eventuell von ähnlichen Komponenten angetrieben werden“, umreißt Michael Kessels eine der Ausgangshypothesen des aktuellen Projektes.
„Die Signale, die solche Prozesse auslösen, müssten natürlich speziell mit dem Schlaganfallgeschehen verbunden sein. Hier drängten sich insbesondere die extrem hohen Kalzium-Signale nach einem Schlaganfall auf“, so Britta Qualmann weiter.
Besonders interessierten sich die Forscher für das Protein Cobl, das sie in früheren Arbeiten als wichtige Komponente im Zellskelett von Nervenzellen identifiziert hatten. Cobl treibt die Ausbildung und die Verzweigung von Dendriten an und wird durch sehr hohe Kalzium-Signale abgebaut. In Gehirnen von Mäusen, bei denen durch den kurzzeitigen Verschluss der Hirnarterie unter Betäubung künstlich ein Schlaganfall ausgelöst wurde, fiel das Cobl-Niveau tatsächlich abrupt ab. Interessanterweise glich jedoch eine vermehrte Neusynthese den Cobl-Verlust schon nach einem Tag wieder effizient aus.
Wofür wird Cobl nach einem Schlaganfall so dringend gebraucht? Das zeigten umfassende Analysen der Nervenzellgestalt zu verschiedenen Zeitpunkten nach dem Schlaganfall – sowohl in normalen Mäusen als auch in Tieren, die durch eine Genveränderung kein Cobl herstellen können. „Auch Nervenzellen im Umfeld der eigentlichen Infarktregion büßten nach einem Schlaganfall nach sechs Stunden einen Großteil ihrer Verzweigungen ein“, beschreibt Dr. Yuanyuan Ji die zunächst auftretenden, gravierenden Schlaganfallfolgen.
„Faszinierenderweise schafften es die Neuronen aber an den Folgetagen, ihre Dendriten wieder neu auswachsen zu lassen“, erklärt die Wissenschaftlerin. Offensichtlich suchten Nervenzellen nahe der Infarktregion in einem kritischen Zeitfenster ein bis vier Tage nach dem Infarkt intensiv nach weiteren Zellen, mit denen sie sich neu vernetzen konnten. Bei Mäusen, denen durch Manipulation des entsprechenden Gens das Protein Cobl fehlte, konnte diese Zellantwort hingegen nicht beobachtet werden.
Der Defekt in den Gehirnen von diesen Mäusen war dramatisch. Ohne Cobl verblieben die Nervenzellen selbst am vierten und auch noch am siebten Tag auf dem durch den Schlaganfall stark beeinträchtigten Ausgangsniveau.
Das Zellgerüstprotein Cobl ist also absolut notwendig für Neuverzweigungen von Nervenzellausläufern, damit sich im durch Schlaganfall geschädigten Gehirn neue neuronale Netzwerke bilden und verlorene Funktionen übernehmen können. „Diese Entdeckung stärkt unsere These, dass bei Umgestaltungen der Zellgestalt starke Kraftausübungen von Zytoskelett-Strukturen in den Nervenzellen erforderlich sind. Cobl fördert die Bildung genau solcher Strukturen. Wir müssen dringend noch mehr über die Funktion und vor allem über die gezielte Schaltbarkeit von Cobl herausfinden“, so Qualmann.
Dieser Beitrag basiert auf einer Pressemitteilung des Universitätsklinikum Jena. Zur Originalpublikation kommt ihr hier.
Bildquelle: Markus Spiske, unsplash