„Wenn ein Aufwachen aus dem Koma aller Wahrscheinlichkeit nach nicht mehr zu erwarten ist, sollen lebenserhaltende Maßnahmen beendet werden.“ So ähnlich lauten viele Patientenverfügungen. Aber wie groß darf und kann diese Wahrscheinlichkeit sein, um eine sichere Prognose zu stellen?
Beide waren sie etwa gleich alt und prominent. Beide waren sie auf Skiern unterwegs und beide hatten einen Unfall mit Gehirnschäden, der sie monatelang ins Koma schickte. Während Michael Schumacher jedoch nach etwa drei Monaten das Bewusstsein wiederfand, starb der niederländische Königsspross Prinz Friso 16 Monate nachdem er von einer Lawine verschüttet worden war und erst nach etwa 20 Minuten ausgegraben wurde.
Die Hoffnung lebt. Daran klammern sich Freunde und Angehörige. Aber gibt es wirklich zuverlässige Kriterien, wie groß die Chancen für ein Aufwachen nach einem „Wachkoma“ sind und wie das Leben danach sein wird? Zwischen 400 und 2.000 Menschen fallen jedes Jahr in Deutschland in ein Wachkoma. Grobe Schätzungen beziffern die Gesamtzahl dieser Patienten irgendwo zwischen 3.000 und 14.000. Immer häufiger taucht dabei auch eine Patientenverfügung auf, die auf eine solche Gehirnschädigung eingeht. Kriterien für ein „Aufwachen“ sind dabei die Fähigkeit, Einsichten zu gewinnen, Entscheidungen zu treffen und mit anderen Menschen in Kontakt zu treten. Wenn diese Fähigkeiten „aller Wahrscheinlichkeit nach unwiederbringlich erloschen“ sind, solle die Weiterbehandlung eingestellt werden. Aber wie groß muss nun diese Wahrscheinlichkeit sein? Ist sie schon nach den ersten Tagen im Koma absehbar? Wer sich zu einer solchen Verfügung entschließt, stellt sich mit Sicherheit auch die Frage: Ist mein Leben noch lebenswert, wenn ich nur durch Augenbewegungen mit meiner Umwelt kommunizieren kann? Auf der Neurowoche 2014 im September setzte sich ein Workshop mit diesem Problem auseinander.
Nicht nur aufgrund vieler verbesserter technischer Möglichkeiten lässt sich die Tätigkeit des Gehirns heute viel besser analysieren und aus der „Gedankenübertragung“ in der Redewendung ist inzwischen medizinische Realität geworden. „Wir können mit den Methoden der klinischen Untersuchung, speziellen Skalen und elektrischen Messungen sowie in Einzelfällen mit neuen funktionellen Bildgebungsmethoden die eindeutig ausweglosen und die eindeutig günstigen Fälle vorhersagen.“, so Wolfgang Heide von der Neurologischen Klinik in Celle und bis letztes Jahr im Vorstand der Deutschen Gesellschaft für Neurologie. Dass das in der Vergangenheit nicht immer der Fall war, darauf deuten Berichte hin, nach denen über 40 Prozent der Patienten ursprünglich als Wachkoma-Patienten im sogenannten „persistent vegetative state“ (PVS) klassifiziert wurden, dann aber mit neuen Methoden doch zu solchen mit erhaltenem Minimalbewusstsein (MCS = minimally conscious state) wurden. Die Prognose für Patienten im MCS ist aber deutlich besser als jene im PVS. Auch das „persistent“ beim vegetativen Status steht bei den Gremien inzwischen zur Diskussion. Zurzeit definiert es ein andauerndes reaktionsloses Koma von mindestens einem Monat. Die neuen Techniken erfassen die metabolische Hirnaktivität beispielsweise mit 18Fluordesoxyglucose-PET oder die Konnektivität des neuronalen Netzwerks mit funktioneller Kernspintomografie (fMRI). Spezielle hochauflösende EEG-Techniken zeichnen auch minimale Reaktionen auf externe Stimuli auf. Eine einfache Ja/Nein-Kommunikation lässt sich bei manchen dieser Patienten aufbauen, wenn man ihnen vorgibt, sich bestimmte Situationen in ihrem Leben wie etwa Sport oder eine vertraute Umgebung vorzustellen. Allerdings, so Wolfgang Heide im Gespräch mit DocCheck, sei die Technik noch nicht ausgereift und mit großen Studien belegt und zum anderen auch noch nicht in der Breite verfügbar, um sie als präzises Prognosewerkzeug zu verwenden.
Eine Wiederaufwachquote aus einem lang dauernden Wachkoma von 8 bis 14 %, so gab Notar Gerald Weigl aus Königsbrunn auf dem Workshop zu bedenken, sei mit dem Begriff im Mustertext „äußerst unwahrscheinlich“ kaum mehr vereinbar. Allerdings sei selbst bei recht präzisen Verfügungen unklar, ob mit dem Begriff „Wiederaufwachen“ auch ein Leben mit schwerster Behinderung gemeint sei. Umgekehrt gebe es jedoch etliche Fälle, in denen vor dem Gehirnschaden ein Leben ohne Mobilität abgelehnt werde. Nach dem Wiederaufwachen gäben die Patienten jedoch eindeutige Zeichen, dass sie auf jeden Fall am Leben bleiben wollten. Frank Erbguth von der Neurologischen Klinik in Nürnberg berichtete aus eigener Erfahrung von einem Schlaganfall-Patienten, der offensichtlich entgegen seiner Verfügung weiterbehandelt werden wollte. Fatal wäre es, so die eindeutige Meinung der Koma-Experten, schon nach wenigen Tagen einen Wachkoma-Patienten „abzuschreiben“ und eine Weiterbehandlung entsprechend seiner Verfügung nur mehr auf das notwendigste zu beschränken oder gar einzustellen. Entsprechend einer Studie bei über 600 erwachsenen Komapatienten nach einem Schädel-Hirntrauma betrug die Wahrscheinlichkeit eines Aufwachens nach einem halben Jahr Bewusstlosigkeit immerhin noch 12 Prozent, bei nicht-traumatischer Ursache liegen die Chancen für ein Ende des Komas nur bei einem Fünftel davon. Auch das Alter spielt eine große Rolle: Immerhin jeder fünfte Patient unter 20 Jahre überstand ein Koma ohne anschließende Behinderung, bei Patienten unter 40 waren es neun Prozent, bei älteren Patienten geht die Wahrscheinlichkeit gegen Null.
Gerade im Hinblick auf „Spätaufwacher“ und bisher unerkannte MCS-Patienten sollten daher bis zu einem gewissen Zeitpunkt alle Anstrengungen unternommen werden, um einem Wachkoma-Patienten die bestmögliche Rehabilitation zukommen zu lassen und eine mögliche Erholung zu fördern. Erst nach diesem Zeitpunkt käme dann die Patientenverfügung ins Spiel. Eine solche Zeitspanne liegt bei einem „traumatischen“ Koma zwischen sechs Monaten und einem Jahr, bei anderen Ursachen bei etwa einem viertel Jahr. Sichere und scharfe Kriterien für die Dauer von Reha-Maßnahmen, so betonte auf dem Podium auch Friedemann Müller von der Schön-Klinik in Bad Aibling, gebe es nicht. Selbst mit den validierten Instrumenten einer Coma-Recovery-Scale lässt sich nicht eindeutig feststellen, ob die fehlende Reaktion eines Patienten am fehlenden Bewusstsein liegt oder an fehlenden Artikulationsmöglichkeiten seiner Gedanken und Empfindungen. Diese Erkenntnis sollte sich, so Wolfgang Heide im Interview, auch bei der täglichen Arbeit auf der neurologischen Station durchsetzen. Daher hätten vermeintliche PVS-Patienten auch ein Recht auf schmerzstillende Medikation. Bei den Gesprächen im Zimmer sollten sich Pfleger und Ärzte bewusst sein, dass der Patient vielleicht mithört. Erlebnisberichte der Deutschen Wachkoma Gesellschaft zeigen, dass ein Zustand erhaltener Wahrnehmung für „Bewusstlose“, die sich nicht bemerkbar machen können, nur schwer zu ertragen ist. „Bewusstlos“ bedeutet nicht „chancenlos“.