Mangelernährung im Krankenhaus, Supplements, Adipositas-Therapie: Die Ernährungsmedizin boomt. Bei der diesjährigen DGIM war alles dabei – die DocCheck News waren für euch vor Ort.
Nahrungsergänzungsmittel (NEM) sind ein „sehr kontroverses Thema, [das] sehr emotional diskutiert [wird]“, erklärt Prof. Martin Smollich vom Institut für Ernährungsmedizin der Uniklinik Schleswig-Holstein in Lübeck. Das beste Beispiel dafür ist Vitamin D, was oft als Allheilmittel gilt, unabhängig vom tatsächlichen Effekt. Doch was sind NEM nun: hilfreich, nutzlos oder schädlich? Die Antwort vorweg: Ja – denn sie können alles davon sein.
Smollich hat für seinen Vortrag eine beispielhafte Liste erstellt:
Hilfreiche NEM:
Sinnlose NEM:
Gefährliche NEM:
Diese Tabelle liefert nur Beispiele dafür, wann NEM hilfreich sein können – daraus lassen sich keine Regeln ableiten. Eine zusätzliche Supplementierung sollte immer im Einzelfall differenziert beurteilt werden. Dafür sollten Smollich zufolge seriöse Informationsquellen für Beurteilung der Dosierung (BfR und EFSA) und Wirksamkeit/Bedenklichkeit (EU Health Claims Liste) herangezogen werden. Allerdings sind diese Listen in Deutschland nicht verbindlich, daher müssen sich Hersteller auch nicht daran halten. Deshalb bieten NEM im kommerziellen Handel meist keine Garantie für die Qualität, Sicherheit oder Wirksamkeit. Denn anders als bei Arzneimitteln müssen Supplements nicht zugelassen werden – daher gibt es sie auch in den absurdesten Dosierungen.
Das Fazit: Insgesamt sind NEM entweder „Dinge, die teuren Urin produzieren, aber mit denen man nichts falsch macht“, ihren berechtigten Einsatz finden oder gesundheitsgefährdend sein können. Daher sollten Patienten sie nicht nach Lust und Laune konsumieren, sondern sich richtig informieren und geeignete Präparate dann einsetzen, wenn es sinnvoll bzw. nötig ist.
Mangelernährung ist nicht immer sichtbar; sie kann auch bestehen, wenn z. B. keine Kachexie vorliegt. Auch Personen mit erhöhtem BMI können mangelernährt sein. Allein bei der Aufnahme in deutschen Kliniken ist jeder vierte Patient mangelernährt oder hat ein Risiko für Mangelernährung – in der Geriatrie ist es sogar etwa jeder zweite Patient.
„Manche denken: Wenn die Dame mal ein paar Kilos abnimmt, das wird ihr ganz guttun. Sie ist sowieso übergewichtig/adipös – da ist doch bestimmt Puffer, bis man daran stirbt“, erklärt Prof. Diana Rubin, Leiterin des Zentrums für Ernährungsmedizin, Vivantes Klinikum. Allerdings haben Patienten mit Mangelernährung auch ein deutlich höheres Komplikations- und Sterberisiko.
Doch inwiefern hat das Körpergewicht generell Einfluss auf die Mortalität? Im jüngeren Lebensalter gilt ein BMI zwischen 20 und 25 kg/m2 als Normalgewicht. In diesem BMI-Bereich bestehe eine geringere Wahrscheinlichkeit für Erkrankungen, weil beispielweise nicht so leicht langfristige Herzkreislauf-Erkrankungen entstehen, so Rubin. Aber im höheren Alter – mit bestehenden Vorerkrankungen – ist das anders: Ein BMI im leicht übergewichtigen Bereich hat die größte Überlebenswahrscheinlichkeit – „ein BMI von 22 kg/m2 ist dann nicht der Zielbereich.“
Dafür führt sie die EuroOOPS-Studie auf, welche die Assoziation zwischen ernährungsbedingtem Risiko und klinischem Outcome erfasst. Die internationale multizentrische Untersuchung verwendet dazu das Nutritional-Risk-Screening, welches Fragen zu Nahrungsaufnahme, BMI und Gewichtsverlust beinhaltet. Das Ergebnis: 32,6 % Patienten waren „in Gefahr einer Mangelernährung“, was wiederum mit höheren Komplikations- und Mortalitätsraten sowie einem verlängerten Krankenhausaufenthalt einherging. Der Unterschied in der Verweildauer betrug bei gut Ernährten im Durchschnitt etwa 10 Tage; bei denjenigen mit starkem Gewichtsverlust lag er bei etwa 17 Tagen.
Etwa 60 % der Krankenhaus-Patienten essen keine volle Mahlzeit, das ergab eine Untersuchung am Nutrition-Day. Bei einer nur zum Viertel gegessenen Mahlzeit verdoppele sich dabei die Mortalität. „Deshalb lohnt sich der Blick aufs Tablett“, erklärt die Medizinerin. Doch das werde zu wenig dokumentiert bzw. überhaupt gemacht. Je nach Studie verlieren etwa 30–80 % während des Krankenhausaufenthalts an Gewicht und erhöhen dadurch das Komplikations- und Mortalitätsrisiko, was nicht nur allein auf die Nahrungsaufnahme, sondern auch auf die Behandlung zurückfällt. Das trage wiederum zu einem erhöhten Risiko einer stationären Wiederaufnahme nach Entlassung bei.
Doch kann man ernährungstherapeutisch überhaupt etwas erreichen, wenn Patienten nur einige Tage stationär aufgenommen werden? Die Antwort ist Ja. Das zeigt die EFFORT-Studie: Etwa 2.000 Patienten, die mindestens 4 Tage im Krankenhaus blieben, erhielten entweder eine protokollbasierte, individualisierte Ernährungsunterstützung oder eine Standard-Krankenhausdiät (Kontrollgruppe). Insgesamt lag die durchschnittliche Verweildauer bei etwa 10 Tagen. Dabei zeigte sich die Intervention als erfolgreich: So wurde das relative Risiko für schwere Komplikationen um 19 % gesenkt (OR: 0,81; 95 % KI: 0,68–97) und bei der Mortalität sogar um 21 % (OR: 0,65; 95 % KI: 0,48–0,68). Dabei lag die Number Needed to Treat (NNT) bei jeweils 25 und 37. Als Vergleich: Die NNT für niedermolekulares Heparin zur Vermeidung einer tiefen Beinvenenthrombosen liege bei 470, erklärt Rubin.
„Ernährungsmedizin/Ernährungstherapie kommt nicht mit Blaulicht und Martinshorn, aber wir haben die Möglichkeit, das Outcome der Patienten zu beeinflussen […] und Leben zu retten“, fasst Rubin ihren Vortrag zusammen. Sie wünscht sich ein verpflichtendes Screening für Mangelernährung in Kliniken. Ernährungsteams sollten dabei ein fester Bestandteil sein – derzeit sei das nur bei unter 5 % der Kliniken in Deutschland der Fall.
Doch wieso ist eine strukturierte und qualifizierte Ernährungstherapie in der Klinik so schwer umsetzbar? „Leider lässt sich die Ernährungsmedizin im Krankenhaus ökonomisch nicht gut abbilden“, erklärt Rubin. Allerdings könne man allein mit 4 Euro für Lebensmittel bei der täglichen Krankenhausverpflegung schon sehr viel machen – bei Vivantes liege der Betrag aktuell bei nur 2,80 Euro.
Von einem Extrem ins nächste: Adipositas hat in den industrialisierten Ländern beinah epidemische Züge angenommen. Etwa 20–25 % haben einen BMI im adipösen Bereich. „Nehmen Sie es ernst, das ist kein Komorbiditätsproblem, sondern eine Krankheit die zur Mortalität führt“, mahnt Dr. Gert Bischoff, Leiter des Zentrums für Ernährungsmeidzin und Prävention (ZEP) in München.
Adipositas sei aber nicht gleich Adipositas – es gäbe nicht die eine Therapie, denn Ausprägung und Komorbidität können variieren. Daher benötige man auch ein ganzes Therapiespektrum: Oft gehören die konservative sowie die operative Therapie dazu. Wichtig sei, wirklich alle zu therapieren, die Adipositas haben, erklärt der Ernähungsmediziner. Denn ab einem BMI von 30 kg/m2 steigt die Mortalität. Daher besteht für Betroffene auch laut Leitlinien eine Behandlungsindikation sowie bei Leuten mit einem etwas geringeren BMI, aber entsprechenden Komorbiditäten, die das Risiko erhöhen.
Doch was ist das Ziel einer Adipositastherapie? „Das Therapieziel ist nicht: ‚Ich möchte eine Bikinifigur erreichen‘“, erklärt Bischoff. „Wir sprechen hier von Adipositas, einer chronischen komplexen Erkrankung.“ Die Zahlen erscheinen für Laien erstmal gering: Wenn ein Patient 150 kg wiegt und 10 % seines Gewichts abnimmt, ist er laut Leitlinien erfolgreich therapiert worden – wiegt aber immer noch 135 kg. Daher müsse man zwischen emotionaler und medizinscher Erwartung trennen.
Wenn man also das Gewicht bei Patienten mit einem BMI > 35 kg/m2 um 10–15 % dauerhaft senken kann, sinkt auch das Mortalitäts- bzw. Morbiditätsrisiko signifikant. Das bedeute aber nicht, dass Betroffene nicht weiterhin abnehmen dürfen. Man müsse realistische Therapieziele setzen. Wenn man sich selbst fragt, wann man im Leben bewusst und dauerhaft 10 % seines Körpergewichts abgenommen hat, werde schnell klar, das dies weder wenig, noch einfach zu halten sei.
Solch ein Ziel erreicht man nicht allein über Medikamente: Orlistat oder Liraglutid erzielen nur eine Wirkung von etwa 5 kg Gewichtsverlust über 6 Monate gegenüber einem Placebo. Viele Betroffene erreichen ihre Ziele so nicht und müssen die Pillen zusätzlich aus eigener Tasche zahlen, da die Krankenkassen diese Therapieform nicht übernehmen.
Semaglutid könnte allerdings ein Game-Changer sein: Der Einsatz in Studien hat bei fast 70 % der Probanden zu einem Gewichtsverlust von 10 % geführt. Als Vergleich: Bei Liraglutid waren es etwa 30 % und bei Orlistat nur etwa 10 %. Laut Bischoff wird das Antidiabetikum in Zukunft eine Rolle spielen. Allerdings wird die Therapie damit im Jahr zwischen 4.000–8.000 Euro kosten. Auch die Nebenwirkungen seien nicht unerheblich: Geht es Patienten dauerhaft schlecht, nehmen sie bereits durch Erbrechen und Durchfall natürlicherweise etwas ab, erklärt der Mediziner. Wie genau die Anwendung im klinischen Bereich aussehen könne, werde die Zeit zeigen.
Wie bereits erwähnt, sind nur multimodale Therapien auch leitliniengerecht: Dazu gehören Bewegungs-, Verhaltens- und Ernährungstherapien sowie die medizinische Betreuung. Dabei kann der Einbau einer Formula-Diät sogar bis zu 20 % Gewichtsreduktion erreichen. Doch das wesentliche Ziel der Adipositastherapie ist nicht die Gewichtsreduktion, sondern die Senkung der Komorbiditäten. Die Reduzierung des Gesamtcholesterins, der Triglycerid- oder LDL-Werte kann über solche Therapien den gleichen Effekt haben wie bei einem Statin. Auch bei Bluthochdruck oder Diabetes können Statuswerte darüber signifikant gesenkt werden. Die Möglichkeit einer Gewichtsreduktion bei adipösen Typ-2-Diabetes-Patienten werde allerdings viel zu wenig genutzt, erklärt der Ernährungsmediziner.
Doch die Adipositasbehandlung erfolgt nicht nur über die konservative Therapie, sondern in bestimmten Fällen auch über bariatrische Eingriffe. Ähnlich wie bei einem Tumor-Board nutzt Bischoff selbst ein Adipositas-Board aus einem interdisziplinären Team. Bei einem solchen chirurgischen Eingriff liegen im Grunde zwei Indikationen vor: Ein BMI über 40 kg/m2 und ausgeschöpfte konservative bzw. multimodale Therapie oder ein BMI > 50 kg/m2. Das beruhe allerdings nicht auf einer Evidenzbasis, sondern auf einem Experten-Konsens. Auch das Alter spielt bei letzterer Indikation eine wesentliche Rolle.
Dafür nennt der Bischoff ein Beispiel: Ein Patient im Alter von 22 Jahren mit einem BMI von 55 kg/m2 und keinerlei Vorerkrankung ist mobil und motiviert – den könne man auch erstmal konservativ behandeln. Ein Patient im Alter von 55 Jahren und ebenfalls einem BMI von 55 kg/m2 mit einem HbA1c von 12 % und zunehmender Immobilität sollte dagegen schleunigst operiert werden. Das zeigt: Der BMI ist nur eine grobe Richtgröße, mit der man auch die Bariatrie im Hinterkopf hat.
Die drei häufigsten Eingriffe:
Viele denken, dass eine Operation die Krankheit Adipositas heilt, erklärt Bischoff. Das ist nicht der Fall; es sei hingegen eine mechanische Hilfe. Wenn ein Patient auf einmal 90 kg abnimmt, ändere sich nicht nur die Zahl auf der Waage. Denn für viele Menschen ist Essen eine Affekt-Regulation, was sich durch diesen mechanischen Eingriff zwangsweise ändert. Doch dadurch passiere auch etwas auf emotionaler Ebene. „Nicht umsonst ist die Suizidrate nach bariatrischer Operation dreimal so hoch wie im Normalkollektiv“, sagt der Mediziner.
Die Supplementation, Ernährungsberatung und ernährungsmedizinische sowie psychologische Nachsorge gehören daher genauso zur Bariatrie wie zur konservativen Therapie. Das zeige auch, wie komplex die Erkrankung ist und dass der mechanistische Ansatz allein oft zu kurz greift, um einen lebenslangen Erfolg zu erzielen. Allerdings findet die professionelle, lebenslange und multimodale Adipositastherapie keine Finanzierung durch die Krankenkassen, weshalb sie hierzulande nur schlecht umgesetzt wird, so das ernüchternde Fazit der Experten.
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