Es braucht mehr. Es braucht neue. Und digital sollen sie auch sein: Die Rede ist von medizinischen Leitlinien. Der G-BA fördert nun den Ausbau der wissenschaftlichen Grundlagen. Wie das funktionieren soll, lest ihr hier.
Um deutschlandweit einheitliche Versorgungsstandards zu gewährleisten, benötigt es eines wissenschaftlichen Konsens, der auf einer evidenzbasierten Erkenntnisgewinnung fußt, in moderner – sprich: digitaler – Form abgelegt und allzeit abrufbar ist. Diesen Konsens zu schaffen, ist in Deutschland Aufgabe der wissenschaftlichen Medizin, sei es in Form von randomisierten, kontrollierten Studien oder als Ergebnis fachlichen Austauschs mit dem Ziel wissenschaftlicher Leitlinien. So weit, so klar.
Gleichzeitig steht das medizinische Versorgungssystem vor großen Herausforderungen. Angefangen bei den notwendigen Finanzmitteln, um Mediziner dazu zu bewegen, Leitlinien zu erstellen, über die schwierige personelle Situation in der Branche – Stichworte: Karrierechancen, Protected Time und Work-Life-Balance – bis hin zur nötigen infrastrukturellen Modernisierung der Systeme. Das geht nicht ohne flächendeckende Digitalisierung.
Um das gewünschte Mehr an Leitlinien zu erhalten und alte Leitlinien zu überarbeiten, fördert der G-BA nun – und zwar mit geplanten 5 Millionen Euro jährlich aus Mitteln eines Innovationsfonds. 12,7 Millionen gab es bereits, für insgesamt 41 eingereichte Projekte. Zur Rolle des G-BA bei der Digitalisierung der Leitlinien sprachen wir mit Prof. Josef Hecken, Vorsitzender des G-BA, in Berlin.
„Unsere Förderungen durch den Innovationsfonds sind insbesondere für Fachgesellschaften gedacht, die keine oder kaum finanzielle Ressourcen haben. Diese können sich mit ihren Forschungszielen beim Innovationsfonds bewerben und erhalten von uns Bescheid, ob sie als Projekt gefördert werden. In eine solche Entscheidung über die Förderung von Leitlinien beziehen wir auch immer die AWMF ein. Insgesamt geht es uns vor allem auch darum, hochwertige Leitlinien ab dem Level S3 zu erhalten“, erklärt Hecken die Intention.
Dass die Leitlinien nicht nur um ihrer selbst willen erstellt werden, unterstreicht auch Prof. Rolf-Detlef Treede, Präsident der AWMF: „Die Leitlinien-Erstellung geschieht aus den Fachgesellschaften heraus und bietet durch ihren interprofessionellen Ansatz jede Menge Chancen. So können sie als Handreichungen dienen, die Ärzte ausgeben, als Quelle für Prüfungen im Studium oder letztlich auch als Grundlage zur Medikamentenzulassung.“
Dass sich der G-BA jetzt um Leitlinien kümmert, ist politisch nicht ganz uninteressant. Einerseits wird damit eine lange gestellte Forderung erfüllt, wonach Leitlinienarbeit eine gewisse Finanzierung benötigt. Andererseits begibt sich der G-BA damit in vermintes Terrain: Als Herausgeber der Nutzenbewertungen hat er in den letzten Jahren quasi eine Art Nebenschiene zu den wissenschaftlichen Leitlinien eröffnet. Deutlich wurde das nicht zuletzt beim digitalen Arzneimittelinformationssystem (AIS), das bisher G-BA-Empfehlungen, nicht aber Leitlinienempfehlungen in die Praxis-IT-Systeme der Ärzte einspielt – was manchem sauer aufstößt.
Hecken zumindest sieht keinen grundsätzlichen Widerspruch zwischen den beiden Welten: „Leitlinien und unsere Nutzenbewertung sind beide notwendig. Die frühe Nutzenbewertung bei neuen Arzneimitteln untersucht den patientenrelevanten Mehrwert gegenüber bereits vorhandenen Vergleichstherapien. Auf dieser Basis können dann Erstattungsbeiträge verhandelt werden. Die Leitlinien dienen hingegen dazu, neue Medikamente ggf. als Goldstandard in die Versorgung einzuführen und neue oder optimierte Therapiesituationen zu etablieren. Unsere Bewertungen geben hierbei wertvolle Hinweise. Das ist also keine Konkurrenzveranstaltung, sondern im Idealfall ein wechselseitiger Prozess.“
Dass methodisch einwandfrei und strukturiert erstellte Leitlinien ihrerseits in vielen Bereichen des G-BA bereits jetzt zur Anwendung kommen, unterstreicht das Zusammenspiel beider Bereiche. So bieten Leitlinien Anhaltspunkte und Empfehlungen für Disease-Management-Programme, wobei es auch hier regelmäßig Konflikte gibt: Wie nah sind die DMPs an den Leitlinien? Definieren sie nicht oft eher eine Art Minimalstandard, der am Ende ein Kompromiss aus Leitlinie und Gesundheitsökonomie ist? Leitlinien liefern in der G-BA-Welt mitunter auch Grundlagen zur Qualitätssicherung, deuten auf zweckmäßige Vergleichstherapien in der Nutzenbewertung hin oder können zur Festlegung von Erprobungsrichtlinien genutzt werden.
Aber da waren ja noch die anderen beiden Teilprobleme, die die Zukunft der Leitlinienarbeit gefährden. Zum einen: Die personelle Situation. Der akademische Mittelbau samt forschungswilliger Wissenschaftler fehlt oder ist in Deutschland unzureichend besetzt – das ist Fakt. Die entscheidenden Fragen sind, wie es dazu kommen konnte und wie man es abstellen kann. Warum dem so ist? Hier liefern enorme bürokratische Hürden, fehlende finanzielle Anreize und eine zunehmend auf Work-Life-Balance setzende junge Ärzteschaft die Antworten.
Wie man dem Zustand begegnen kann, erläutert Prof. Henning Schliephake, stellvertretender Präsident des AWMF: „Jungen Ärzten müssen geschützte Karrierepfade aufgezeigt werden. Beispielsweise müsste es ihnen möglich sein, zwei Tage die Woche aus dem Klinikalltag heraus Forschung zu betreiben – eine Art ‚Protected Time‘. Zum anderen müssten standartisierte Musterverträge etabliert, Zulassungen vereinfacht werden und insgesamt eine Entbürokratisierung stattfinden.“
Das größte Problem der Digitalisierung, vor dem die Medizin steht, ist eines, das sie sich mit nahezu allen Branchen in Deutschland teilt: Eine grundlegende digitale Ausstattung aller am System beteiligten Personen. „Die Digitalisierung von Leitlinien kann nur Erfolg und Mehrwert haben, wenn der Arzt auf Knopfdruck sehen kann, wie der aktuelle Stand ist. Damit das funktionieren kann, braucht es eine Grunddigitalisierung der gesamten Gesundheitsbranche“, erklärt Hecken.
Was die Digitalisierung der Leitlinien im Speziellen angeht, gibt es in einzelnen Disziplinen gewisse Fortschritte. So werden Leitlinien im onkologischen Bereich schon seit einiger Zeit nur noch in digitalem Format veröffentlicht. Allerdings ist auch die oft exemplarisch genannte Onkopedia derzeit ein reines digitales Nachschlagewerk, weit entfernt von einer interaktiven Leitlinie, deren Inhalte standardisiert in IT-Tools eingebunden werden kann. Die Vision, wonach digitale Anwendungen, zum Beispiel auch Apps, kontextsensitiv Leitlinieninhalte einbinden können, ist bisher nichts anderes als das – eine Vision. Und weil das so ist, läuft auch die Forderung einer Einbindung von Leitlinien in das digitale AIS in vielen Disziplinen schlicht ins Leere.
Um zügiger voranzukommen, gibt es schon länger Pläne, das Ganze strukturell umfassend anzugehen: „Wir brauchen einen einfachen Transformationsprozess für eine ,Übersetzung‘ von Leitlinien in ein digitales Format. Daher haben wir den Gesetzgeber gebeten, dass wir als Innovationsausschuss auch solche Projekte finanziell fördern können“, beschreibt Hecken die Rolle des G-BA bei der Digitalisierung der Leitlinien.
Ob Wochen, Monate oder Jahre vergehen, bis in den einzelnen Bereichen gehandelt werden kann, liegt nun an der Politik. Und die hat neben den fachlichen Fragen auch den G-BA als Institution auf dem Schirm. Dass das Medizinergremium als solches in dieser Legislaturperiode einer Neuerung unterzogen werden sollte, behindere oder störe jedoch den parallelen Ausbau bzw. die Bemühungen im Leitlinienwesen nicht.
„Wir erwarten keine wesentlichen inhaltlichen Änderungen an unserer fachlichen Arbeit. Ich bin sicher, die frühe Nutzenbewertung wird grundsätzlich weiterbestehen. Es wird eher darum gehen, zusätzliche Stakeholder in den Beratungen des G-BA und weitere Interessen einzubeziehen. Dieses Vorhaben der Regierungsparteien kann ich verstehen. Aber man muss dabei auch auf die Balance achten und schauen, dass man die von der gesundheitspolitischen Öffentlichkeit zugleich gewünschte Beschleunigung unserer Verfahren nicht dadurch gefährdet, indem man eine Vielzahl an stimmberechtigten Interessensvertretern einbezieht, die sich gegenseitig blockieren“, bezieht Hecken Stellung zu den Plänen.
Letztlich bleibt es also dabei: Die interdisziplinäre, evidenzbasierte Arbeit schafft sowohl in der Leitlinien- als auch Nutzenbewertung konsensualen Erkenntnisgewinn. Doch einige Stellschrauben müssen nachgezogen werden – die ersten davon werden mit jährlich 5 Millionen Euro arretiert.
Bildquelle: Rene Böhmer, unsplash.