Wird über Behandlungsfehler berichtet, fallen oft Begriffe wie „Ärztepfusch“ und „Kunstfehler“. Während die Ärzteschaft darin eine Verunglimpfung sieht, verschafft sich so manch verzweifelter Patient Gehör. Welchen Stellenwert besitzen Behandlungsfehler in der modernen Medizin?
Vor rund zwei Jahren fasste die Bundesregierung sämtliche Regelungen, Klauseln und Rechtsprechungen zum Patientenrecht im „Gesetz zur Verbesserung der Rechte von Patientinnen und Patienten“ zusammen. Ein wesentlicher Schwerpunkt darin ist die Neuregelung im Umgang mit Behandlungsfehlern, bei denen seitdem je nach Folgenschwere zwischen „einfachen“ und „groben“ Verfehlungen unterschieden wird. Außerdem werden die Krankenkassen durch das neue Gesetz dazu aufgerufen, die Versicherten zu unterstützen, wenn der Verdacht auf einen Behandlungsfehler vorliegt. Dass der rechtliche Umgang mit Behandlungsfehlern neuerdings normiert und in einem Gesetz verankert ist, belegt die gesellschaftliche und gesundheitspolitische Tragweite dieses Themas. Im öffentlichen Bewusstsein scheint die Problematik überdies das Maß der Besorgnis bereits überschritten zu haben: „Unsere Mitarbeiter erleben Patienten, die Infusionsbeutel fotografieren, aus Angst, es könne etwas verwechselt werden“, berichtet Georg Baum, Geschäftsführer der Deutschen Krankenhausgesellschaft.
Für das Jahr 2013 verzeichnet die Behandlungsfehlerstatistik der Gutachterkommissionen und Schlichtungsstellen der Ärztekammern eine im Vergleich zu 2012 nahezu unveränderte Zahl von rund 12.000 Anträgen. Bei über 2.200 Anträgen bestätigten die Gutachter den Verdacht auf einen Behandlungsfehler. „Angesichts von fast 700 Millionen Behandlungsfällen im ambulanten Bereich und mehr als 18 Millionen Fällen in den Kliniken jährlich bewegt sich die Zahl der festgestellten ärztlichen Behandlungsfehler im Promillebereich“, hebt Ärztekammerpräsident Prof. Frank Ulrich Montgomery hervor. Die statistische Erhebung der Medizinischen Dienste der Krankenversicherung (MDK) zählte im gleichen Jahr mit etwa 14.600 Gutachten einen Anstieg von 17 % im Vergleich zum Vorjahr, während die Zahl der Behandlungsfehler um 5 % auf 3.700 sank. Rund zwei Jahre nach Inkrafttreten des Patientenrechtegesetzes sieht Kai Vogel vom Verbraucherzentrale Bundesverband (vzbv) im Zuwachs der Gutachten einen positiven Trend: „Es zeigt, dass die Menschen sich ihrer Rechte bewusst sind, und auch dass die Krankenkassen sie jetzt mit den Gutachten unterstützen, weil das Gesetz sie dazu verpflichtet.“ Sowohl in der Klinik als auch im niedergelassenen Bereich entfiel der Großteil der Vorwürfe auf die operativen Fächer, allen voran die Unfallchirurgie/Orthopädie und die Allgemeinchirurgie. Darüber hinaus führt die Statistik des MDK an dritter Stelle die Zahnmedizin, inklusive der MKG-Chirurgie. Während sich in der Klinik dementsprechend mehr als ein Drittel der Fehler bei Operationen ereignete – die Coxarthrose und die Gonarthrose führen die Liste an –, bildete bei den Praxen hingegen die Diagnostik die größte Fehlerquelle.
Wie viele Behandlungsfehler tatsächlich jährlich passieren, lässt sich allerdings nur schätzen, da es keine bundeseinheitliche Statistik gibt. „Wir gehen davon aus, dass eine hohe Dunkelziffer besteht“, sagt Prof. Astrid Zobel, Leitende Ärztin für Sozialmedizin des MDK Bayern. „Weil nicht jeder Fehler klar ersichtlich ist, aber auch weil Patienten sich manchmal davor scheuen, einen Fehler klären zu lassen.“ Gründe seien laut dem Sozialverband VdK oftmals mangelndes Vertrauen in die Ärzteschaft und die Krankenkassen sowie die Angst vor horrenden Gerichtskosten. Doch auch jene Patienten, die direkt den Schritt vor Gericht wagen, entgehen den Registern. Dr. Andreas Crusius schätzt angesichts dessen, dass es pro Jahr insgesamt rund 40.000 Anträge von Patienten gebe, die einen Fehler vermuten. Indes geht das Bundesministerium für Gesundheit (BMG) bereits von bis zu 170.000 Behandlungsfehlern per anno aus. Maria Klein-Schmeink von den Grünen ist sich daher sicher: „Die Statistik der Schlichtungsstellen bildet nur die Spitze des Eisbergs ab.“
Hegt ein Patient den Verdacht auf einen Behandlungsfehler, empfiehlt das BMG in erster Instanz das Gespräch mit dem behandelnden Arzt, da dieser auf Nachfrage oder zur Abwehr gesundheitlicher Gefahren zur wahrheitsgemäßen Auskunft verpflichtet ist. Darüber hinaus haben Patienten zu jedem Zeitpunkt das Recht, die eigene Patientenakte einzusehen. Lässt sich ein Behandlungsfehlervorwurf nicht direkt zwischen dem Patienten und dem Arzt klären, folgt mit der Zustimmung des Arztes im nächsten Schritt die Konsultation der Gutachterkommissionen und Schlichtungsstellen. „Das medizinische Gutachten ist das Kernstück des Arzthaftungsverfahrens“, betont Prof. Walter Schaffartzik, Vorsitzender der Schlichtungsstelle für Arzthaftpflichtfragen der norddeutschen Ärztekammern. Zur Erleichterung der Beweisführung haben Patienten dank des neuen Gesetzes Anspruch auf ein vom MDK getragenes Gutachten. Führt auch die außergerichtliche Verfahrensweise nicht zu einer Einigung, können sich beide Parteien an ein Zivilgericht wenden. Patienten haben in einem solchen Zivilrechtsprozess Anspruch auf Schadensersatz und Schmerzensgeld, sofern der kausale Zusammenhang zwischen einem etwaigen Behandlungsfehler und dem Schaden bewiesen werden kann. Wenn das Gericht dem Arzt im Verlauf des Prozesses jedoch einen groben Behandlungsfehler als Schadensursache attestiert, zwingt die sogenannte Beweislastumkehr den Arzt seit knapp zwei Jahren dazu, die Kausalität oder den Tatbestand des Behandlungsfehlers selbst zu widerlegen.
Obwohl die Mehrzahl aller Behandlungsfehler keine verheerenden Folgen hat, führt nichtsdestotrotz fast jeder dritte Fehler zu schweren Schäden bis hin zum Tod. Die Patienten und Angehörigen kämpfen oftmals mehrere Jahre um ihr Recht – die durchschnittliche Dauer eines Verfahrens bei den Gutachterkommissionen und Schlichterstellen der Ärztekammern beträgt zehn bis zwölf Monate. Im Schatten der teilweise dramatischen Konsequenzen eines Behandlungsfehlers findet das persönliche Schicksal der verantwortlichen Ärzte allerdings häufig nur wenig Beachtung. Prof. Albert Wu von der Johns Hopkins University in Baltimore bezeichnet den Arzt deshalb in diesem Zusammenhang als „zweites Opfer“. „Kein Arzt kann ein ganzes Berufsleben ohne Fehler absolvieren“, konstatiert Dr. Bernhard Mäulen, Leiter des Instituts für Ärztegesundheit in Villingen-Schwenningen. „Aber lange wurde in der Ausbildung so getan.“ Tatsächlich bestätigten bei einer Befragung in Nordamerika 92 % der Mediziner, bereits einmal einen Behandlungsfehler begangen zu haben. Knapp die Hälfte von ihnen gab an, danach ängstlicher geworden zu sein, Selbstvertrauen eingebüßt zu haben oder unter schwerwiegenden Schlafstörungen zu leiden. Nach Angaben des Aktionsbündnisses Patientensicherheit (APS) sei der Arzt jedoch in 80 % der Fälle nicht allein verantwortlich. Mäulen erläutert: „Ärzte sind oft sehr idealistisch und suchen die Schuld alleine bei sich. Aber Schuldgefühle bringen niemanden weiter.“
In den letzten Jahren hat jedoch ein Umdenken eingesetzt: „Mediziner haben eingesehen, dass es gut ist, zu Fehlern zu stehen – gut, um daraus zu lernen und sie in Zukunft zu vermeiden“, sagt Mäulen. „Das oberste Ziel auf dem Weg zu mehr Patientensicherheit ist eine Fehlerkultur, in der der Arzt keine Angst hat zu sagen, wenn etwas schief- oder beinahe schiefgegangen ist“, bestätigt auch Dr. Günther Jonitz, Präsident der Berliner Ärztekammer und Gründungsmitglied des APS. Bereits im Jahr 2004 schuf das Institut für Allgemeinmedizin der Universität Frankfurt am Main zu diesem Zweck mit einer Website ein digitales Fehlerberichts- und Lernsystem für Hausarztpraxen. Das Äquivalent des Krankenhauswesens ist das kurz darauf von BÄK, Kassenärztlicher Bundesvereinigung (KBV) und Ärztlichem Zentrum für Qualität in der Medizin (ÄZQ) ins Leben gerufene Critical Incident Reporting System (CIRSmedical Deutschland). Ein weiterer Meilenstein war auf Initiative des APS die Gründung des bundesweit einmaligen Instituts für Patientensicherheit (IfPS) der Universität Bonn, das sich sowohl auf nationaler als auch auf internationaler Ebene in Projekten der WHO und der EU engagiert.
Angesichts dieser Entwicklungen fußt die Implementierung der Patientenrechte in einem eigens dafür geschaffenen Gesetz auf einer vor über zehn Jahren begonnenen Evolution der Fehlerkultur. Der Beitrag der Legislative besteht in diesem Zusammenhang in der Verpflichtung aller Krankenhäuser zur Einrichtung eines patientenorientierten Beschwerdemanagementsystems, zu dem der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) vergangenes Jahr einheitliche Mindeststandards beschlossen hat. Ein weiteres großes Anliegen vieler Experten ist, im nächsten Schritt die Themen Patientensicherheit und Fehlerkultur in den Lehrplan der medizinischen Ausbildung aufzunehmen. Zwar gebe es noch viel zu tun, „aber wir sind auf einem sehr guten Weg, viele Leute sind dabei, ihre Hausaufgaben zu machen“, freut sich Hedwig François-Kettner vom APS.