Stark übergewichtige Patienten haben bei schweren Erkrankungen im Vergleich zu Normalgewichtigen eine höhere Überlebenschance. Das nennt man Adipositas-Paradoxon. Studien zeigen jetzt: Das Paradoxon ist nicht nur scheinbar unsinnig, sondern sogar ungültig.
Schon in den Jahren 2003 und 2004 veröffentlichten Forscher zwei überaschende Beiträge im Journal Kidney International beziehungsweise im Journal of the American College of Cardiology. Sie fanden bei Dialysepatienten bzw. bei Patienten mit Herzerkrankungen eine Assoziation zwischen niedrigeren kardiovaskulären Risiken und einem höheren BMI. Der Begriff des „Adipositas-Paradoxons“ erblickte das Licht der wissenschaftlichen Welt. Anfangs maßen Forscher dem Effekt wenig Bedeutung bei. Vor knapp fünf Jahren sorgte jedoch eine Arbeit von der US-amerikanischen Epidemiologin Katherine M. Flegal für Schlagzeilen. Bei einer Metaanalyse stellte sie fest, dass Grad 1-Adipositas mit BMI-Werten zwischen 30 und 35 kg/m² überraschenderweise mit einer um sechs Prozent niedrigeren Gesamtmortalität assoziiert war, verglichen mit normalgewichtigen Probanden. Das Adipositas-Paradoxon scheint unzählige Menschen zu betreffen. Wie Experten der Weltgesundheitsorganisation WHO schätzen, haben 1,3 Milliarden Erwachsene BMI-Werte im vermeintlich schützenden Bereich. Mittlerweile bezweifeln Experten die Existenz des Adipositas-Paradoxons.
Virginia Chang © NYI Virginia W. Chang von der New York University wertete Daten der Health and Retirement Study, einer seit 1992 laufenden Studie mit rund 30.000 Medicare-Versicherten im Alter von mindestens 50 Jahren, aus. Um mögliche Zusammenhänge zwischen Gewicht und Mortalität bei Personen mit Herz-Kreislauf-Erkrankungen abzuschätzen, arbeitete sie mit verschiedenen statistischen Modellen. Ihre Diagnosen erhielt Chang entweder aus Patientenakten oder aus gezielten Befragungen der Studienteilnehmer. Sie untersuchte Myokardinfarkte, chronische Herzinsuffizienzen, Schlaganfälle und die ischämische Herzkrankheit. Zu Beginn ihrer Auswertung replizierte Chang Ergebnisse früherer Studien. Das Sterberisiko war bei Personen mit Grad 1-Adipositas je nach Art des Leidens um 18 bis 36 Prozent niedriger als bei Normalgewichtigen. Ihr fiel jedoch eine zentrale Schwäche dieses Modells auf: Epidemiologische Studien zeigen Assoziationen auf, können deren Kausalität aber nicht belegen. Wie Chang berichtet, gehen viele Leiden, kardiovaskuläre Erkrankungen eingeschlossen, mit starkem Gewichtsverlust einher. Niedrige BMI-Werte scheinen plötzlich mit einer höheren Mortalität assoziiert zu sein. Umgekehrt schienen höhere Werte mit einer niedrigeren Mortalität assoziiert zu sein. So kam es dazu:
Arbeitete Chang mit einem statistischen Vorhersagemodell, das Patienten unter ähnlichen kardiovaskulären Bedingungen verglich, beispielsweise einem Krankheitsbeginn erst nach Aufnahme in die Studie, gab es plötzlich keine Hinweise auf diesen vermeintlichen Überlebensvorteil. Für ihre Prävalenz-Analyse nutzten Statistiker das aktuelle Körpergewicht ihrer Patienten, während sie Inzidenz-Analysen mit dem erfassten oder simulierten Gewicht vor der Diagnose durchführten. „Wir haben keine Beweise für ein Adipositas-Paradox gefunden, wenn wir Methoden verwenden, die weniger anfällig für einen Bias sind“, fasst die Erstautorin zusammen. „Der Verlust des Adipositas-Paradoxons im selben Datensatz lässt darauf schließen, dass die vorherrschenden Modelle wahrscheinlich durch Faktoren wie krankheitsbedingten Gewichtsverlust und selektives Überleben beeinflusst werden.“ Sie kommt zu dem Resümee, dass keine Neubewertung von Leitlinien erforderlich sei. Ärzte sollten Patienten mit Präadipositas oder Adipositas behandeln, wie es alle Leitlinien fordern.
Frank Hu © Harvard University Ergebnisse der Global BMI Mortality Collaboration gehen in eine ähnliche Richtung. „Um unvoreingenommene Assoziationen zwischen BMI und Mortalität zu erhalten, ist es wichtig, Personen zu identifizieren, die zu Beginn der Studie niemals geraucht haben und keine chronischen Krankheiten hatten“, sagt Frank Hu von der Harvard Chan School. Zusammen mit Kollegen untersuchte er Daten zu mehr als 10,6 Millionen Teilnehmern aus 239 großen Studien. Die Nachbeobachtungszeit betrug durchschnittlich 14 Jahre. Dabei erfasste er insgesamt 1,6 Millionen Todesfälle. Um mögliche Verzerrungen zu vermeiden, schlossen die Forscher frühere oder aktuelle Raucher sowie Personen mit Vorerkrankungen aus. Und siehe da: Hu bestätigte, was Ärzte eigentlich schon immer vermutet hatten:
Anschließend untersuchte das Team Assoziationen mit spezifischen Todesursachen. Ein Anstieg des BMI um jeweils fünf Einheiten über 25 kg/m² erhöhte die kardiovaskuläre Mortalität um 49 Prozent, die Mortalität aufgrund von Atemwegserkrankungen um 38 Prozent und aufgrund von Krebserkrankungen um 19 Prozent.
Übergewicht kann in bestimmten Situationen von Vorteil sein, Stichwort Kachexie. Unser Körper baut bei niedrigen BMI-Werten nicht nur Speicherfettdepots, sondern strukturelle Komponenten wie Muskeln ab. Dadurch verschlechtert sich die Prognose vieler Erkrankungen, wie Forscher mehrfach bei chronischer Herzschwäche und bei Krebserkrankungen gezeigt haben. Es gibt etliche Hinweise, dass diese Patienten von höheren BMI-Werten, aber nicht von Adipositas, profitieren. Für Ärzte lohnt es sich also in jeder Hinsicht, den BMI-Wert ihrer Patienten zu optimieren.