Viele neurodegenerative Erkrankungen gehen mit Protein-Klumpen im Hirngewebe Betroffener einher. Forscher fanden nun ein bisher unbekanntes Protein, das gleich bei mehreren Krankheiten eine Rolle spielen könnte.
Bei einem Rundgang durch die Zellen des Gehirns eines Alzheimer-Patienten findet man winzige Proteinverklumpungen, die verdächtig erscheinen. Schon in den 1980er Jahren haben Forscher entdeckt, dass auch andere Hirnerkrankungen ihre eigenen Formen und Kombinationen solcher verknäuelten Proteine haben.
„Jede dieser Krankheiten hat ein einzigartiges Protein-Wirrwarr, das mit ihr assoziiert ist“, sagt Dr. Anthony Fitzpatrick, leitender Forscher am Zuckerman-Institut und Mitglied des Taub Institute for Research on Alzheimer's Disease and the Aging Brain der Columbia University.
Die in der Zeitschrift Cell veröffentlichte Forschungsarbeit von Dr. Fitzpatrick und einem internationalen Team von 22 Mitarbeitern handelt von einer neuen Fibrille in erkrankten Gehirnen, welche von einem Protein gebildet wird, das normalerweise mit der Reinigung von Zellen beschäftigt ist. „Wir kamen zu einem überraschenden Ergebnis, von dem wir hoffen, dass es einen gewissen Einfluss auf die Behandlung neurodegenerativer Erkrankungen haben könnte“, so Andrew Chang, Co-Erstautor der Studie.
Arzneimittelforscher sind seit langem auf der Suche nach verknäuelten Proteinen als Zielstrukturen für neue Medikamente, aber die Suche hat bisher weitgehend enttäuschende Ergebnisse geliefert.
Fibrillen-assoziierte Krankheiten betreffen insgesamt Millionen von Menschen auf der ganzen Welt. Ihre Häufigkeit wird mit dem Bevölkerungswachstum und der steigenden Lebenserwartung voraussichtlich zunehmen. Die Entschlüsselung der Vorgänge bei diesen neurodegenerativen Krankheiten hat für Dr. Fitzpatrick einen persönlichen Aspekt: Er verlor seinen Onkel durch die progressive supranukleäre Blicklähmung (PSP).
„Wir haben herausgefunden, dass ein Protein namens TMEM106B Fibrillen bilden kann – dieses Verhalten war vorher nicht bekannt“, so Xinyu Xiang, früheres Mitglied des Fitzpatrick-Labors am Zuckerman Institute und jetzt Doktorand an der Stanford University. „Dieses Protein ist ein zentraler Bestandteil von Lysosomen und Endosomen, also von Organellen, die den Müll beseitigen, der sich mit zunehmendem Alter in unseren Zellen ansammelt.“
Normalerweise überspannen TMEM106B-Moleküle die Membranen dieser „Abfallentsorgungsorganellen“. In seiner Laborforschung entdeckte Fitzpatricks Team, dass sich TMEM106B-Moleküle in zwei Fragmente aufspalten können. Die Fragmente können sich dann innerhalb der Organellen selbst zu Fibrillen zusammensetzen, von denen die Forscher vermuten, dass es sich dabei um zellfressende Fibrillen handeln könnte.
Für ihre Untersuchungen extrahierten die Forscher zunächst Proteine aus Hirngewebe von 11 Patienten. Sie alle waren an neurodegenerativen Krankheiten gestorben, die mit fehlgefalteten Proteinen in Verbindung stehen: PSP, Lewy-Körperchen-Demenz (DLB) und frontotemporale lobäre Degeneration (FTLD). Die FTLD ist die häufigste Form der Demenz bei Menschen unter 60 Jahren.
Mit einem kryogenen Elektronenmikroskop (Kryo-EM) machte das Team Schnappschüsse von einzelnen Proteinmolekülen aus vielen verschiedenen Winkeln. Daraus konstruierten die Forscher dreidimensionale Modelle des Proteins mit atomaren Details. Diese Modelle wiederum halfen den Forschern, TMEM106B zu identifizieren, indem sie Vermutungen über die genaue Sequenz der Aminosäurebausteine des Proteins anstellten. Ähnlich wie sich Buchstaben zu Wörtern mit bestimmten Bedeutungen aneinanderreihen, bilden verschiedene Aminosäuremoleküle Proteine, jedes mit seiner eigenen Form und Funktion.
Die Forscher erwarteten, dass eines der seit langem bekannten fibrillenbildenden Proteine, wie das Tau-Protein bei der Alzheimer-Krankheit, mit den Modellen aus den Kryo-EM-Daten übereinstimmen würde. Stattdessen lieferte der Abgleich, bei dem eine riesige Datenbank mit Proteinsequenzen durchsucht wurde, ein verblüffendes Ergebnis. Die Forscher fanden heraus, dass das mysteriöse Protein mit einem 135-Aminosäuren-Fragment von TMEM106B übereinstimmt. Das war eine aufregende Enthüllung, denn dasselbe Protein wurde vor mehr als einem Jahrzehnt bei einer breit angelegten Suche nach Genen identifiziert, die möglicherweise mit FTLD in Verbindung standen.
Bislang zeigen die vorliegenden Daten nur, dass TMEM106B-Fibrillen in erkranktem Hirngewebe vorhanden sind, nicht aber, dass die Fibrillen die Krankheiten verursachen. Dennoch weist Dr. Fitzpatrick darauf hin, dass das Vorkommen von TMEM106B-Fibrillen in Gewebe verschiedener Hirnerkrankungen – in Verbindung mit dem normalen Vorkommen des Proteins in Lysosomen und Endosomen – auf eine mögliche krankheitsverursachende Rolle hinweist.
In ihrem Cell-Artikel spekulieren die Forscher, dass die Bildung von TMEM106B-Fibrillen die Lysosomenfunktion stört, was wiederum die Bildung von Fibrillen fördert. Diese Fehlfunktionen könnten zum Absterben von Gehirnzellen führen und Demenz, Bewegungsstörungen, Sprachstörungen und andere Symptome von Alzheimer, PSP, FTLD und anderen Gehirnkrankheiten mit verräterischen Proteinverknotungen hervorrufen.
„Wir haben jetzt eine vielversprechende neue Spur“, so Dr. Fitzpatrick. „Sie könnte auf einen roten Faden hinweisen, der eine Reihe von neurodegenerativen Erkrankungen miteinander verbindet – das könnte den Weg für neue Interventionen ebnen.“
Dieser Beitrag basiert auf einer Pressemitteilung der Columbia University. Die Originalpublikation findet ihr hier und im Text markiert.
Bildquelle: David Clode, unsplash