Viele neurodegenerative Erkrankungen beruhen auf Proteinaggregaten. Schuld für die Fehlfaltung sind häufig Chaperone. Aber nicht alle führen zur Aggregation: Einige können sogar helfen – doch wieso tun sie es nicht?
Chorea Huntington, Alzheimer, ALS und zahlreiche andere neurodegenerative Krankheiten haben eines gemeinsam: Sie alle sind dadurch gekennzeichnet, dass Proteine – für jede Krankheit andere – in den Neuronen des Gehirns und des Nervensystems aggregieren. Nun haben Wissenschaftler herausgefunden, dass die Zellen über die Mechanismen zum Abbau dieser Aggregate verfügen, sie aktivieren sie nur nicht. Ihre Studie wurde kürzlich in Nature Communications veröffentlicht.
Aggregate bilden sich, wenn sich bestimmte Proteine falsch zusammensetzen. Anstatt die ihnen zugedachte Funktion zu erfüllen, heften sie sich aneinander und bilden große Klumpen, die nicht nur nutzlos sind, sondern auch die normale Funktionalität der Zellen stören. Die Forschungsgruppe um Professor Reut Shalgi untersuchte, wie die Zellen auf die sich in ihnen bildenden Aggregate reagieren.
Als Reaktion auf Stress aktiviert die Zelle unter anderem bestimmte Chaperone, um fehlgefaltete Proteine zu korrigieren oder zu entfernen. Aber welche werden aktiviert? Und welche werden benötigt, um das Problem zu lösen?
In der menschlichen DNA sind sehr viele verschiedene Chaperone kodiert. Die Forscher untersuchten 66 von ihnen in Zellen mit Huntington- oder ALS-assoziierten Proteinaggregaten. Sie fanden heraus, dass einige Chaperone die Situation nur verschlimmerten. Überraschenderweise fanden sie aber auch welche, die die Aggregate beseitigen und die Zelle heilen können.
Warum also – wenn es die notwendigen Chaperone gibt – werden die Zellen der Patienten nicht geheilt, bevor die Neuronen degenerieren? „Es reicht nicht aus, dass die Werkzeuge im Werkzeugkasten der Zelle vorhanden sind“, sagt Prof. Shalgi. „Die Zelle muss erkennen, dass es ein Problem gibt, und dann muss sie wissen, welche der vielen Werkzeuge, die ihr zur Verfügung stehen, sie zur Lösung des Problems einsetzen soll.“
Doch genau hier liegt der Engpass: In Zellen mit Huntington-assoziierten Proteinaggregaten spürten die Zellen, dass es ein Problem gab und aktivierten einige Chaperone als Stressreaktion – aber nicht die richtigen. Die Zellen wussten nicht, was die Ursache für den Stress war und was sie tun sollten, um die Situation zu korrigieren. Bei ALS-assoziierten Aggregaten war es noch schlimmer: Die Zellen erkannten nicht, dass sie überhaupt Chaperone aktivieren mussten, und zeigten keine Anzeichen von Stress.
„Die Zelle ist ein kompliziertes System“, erklärt Prof. Shalgi die überraschenden Ergebnisse. „Denkt an einen Computer: Wenn etwas nicht in Ordnung ist, merkt man das manchmal nicht sofort. Er reagiert vielleicht nur ein bisschen langsamer als sonst, oder er gibt eine Fehlermeldung aus, die man ignoriert und vergisst. Wenn man dann merkt, dass etwas nicht stimmt, versucht man das Problem zu diagnostizieren und zu lösen. Manchmal ist die Lösung sofort gefunden. Aber manchmal handelt es sich um etwas, das man noch nie zuvor gesehen hat, und man weißt nicht, welcher Treiber installiert oder welches Hardwareteil ersetzt werden muss. So ist es auch mit unseren Zellen: Sie erkennen nicht immer, dass es ein Problem gibt, oder wissen nicht, wie sie es lösen können – auch wenn sie eigentlich die Mittel dazu haben. Die gute Nachricht ist: Die Fähigkeit ist vorhanden und wir hoffen, dass künftige Behandlungen entwickelt werden können, um sie zu aktivieren und die körpereigenen Werkzeuge zur Heilung dieser neurodegenerativen Krankheiten einzusetzen.“
Dieser Artikel basiert auf einer Pressemitteilung des Technion-Israel Institue of Technology. Die Originalpublikation findet ihr hier und im Text.
Bildquelle: Julie Molliver, unsplash