Bei Helmut K. (56) treten seit einiger Zeit leichte Lähmungen auf, sodass er öfter stolpert. Seinem Arzt erzählt er von Sprach- und Schluckstörungen sowie von Muskelzuckungen. Er kann sich nicht erinnern, wann die Symptome zum ersten Mal aufgetreten sind. Ihre Vermutung?
Helmut K.s Arzt fallen die zunehmende Muskelschwäche und die Muskelatrophie auf, besonders an Hand- und Fußmuskeln. Maligne Muskelzuckungen treten beim Herausstrecken der Zunge auf. Auch kommt es zu Faszikulationen, sobald der Neurologe Muskeln beklopft. Im Elektromyogramm fallen pathologische Muskelaktivitäten auf. Und die Bildgebung zeigt Atrophien im Gehirn beziehungsweise im Rückenmark. Ganz klar, der Patient leidet an Amyotrophischer Lateralsklerose (ALS).
Helmut K.s Leiden gilt als seltenes Krankheitsbild. Schätzungen zufolge liegt die Inzidenz bei drei Neuerkrankungen pro 100.000 Menschen. In Deutschland gibt es rund 7.000 bis 8.000 Betroffene. Besonders häufig erkranken Menschen zwischen dem 50. und dem 70. Lebensjahr – ein Maximum liegt zwischen 56 und 58. Vor allem im Anfangsstadium ist das Krankheitsbild äußerst variabel. Je nach Lokalisation von Schädigungen kommt es zu unterschiedlichen Funktionseinschränkungen der Muskulatur. Bei der Therapie benötigen Betroffene interdisziplinäre Teams aus verschiedenen Fachärzten, Physiotherapeuten, Ergotherapeuten und Logopäden. Pharmakologisch wird versucht, den Untergang motorischer Nervenzellen zu verlangsamen. Neurologen verordnen Riluzol als Glutamat-Antagonisten. Ansonsten orientiert sich die Pharmakotherapie stark am vorherrschenden Symptom. Schluckstörungen werden oft zum Thema. Häufig müssen Ärzte deshalb PEG-Sonden legen. Um die Speichelproduktion zu verringern, haben sich Amitriptylin oder Scopolamin bewährt. Und bei Krämpfen profitieren Betroffene von Chininsulfat beziehungsweise Carbamazepin. Früher oder später muss maschinell beatmet werden. Betroffene versterben innerhalb weniger Jahre. Sie leben nur in Ausnahmefällen Jahre und Jahrzehnte mit ihrer Krankheit, wie Stephen Hawking. Bei dem britischen Astrophysiker sprechen Ärzte von einer juvenilen Form mit langsamer Progression.
Noch ein Blick auf die Ernährungssituation bei ALS: Als besonders kritisch gilt der Gewichtsverlust durch Schluckstörungen und Depressionen bei gleichzeitig erhöhtem Grundumsatz. Ältere Studien hatten gezeigt, dass ALS-Patienten mit leichtem Übergewicht länger leben als Menschen mit Normalgewicht oder Untergewicht. Genau hier setzen Forscher jetzt an. Einer kürzlich veröffentlichten Arbeit zufolge macht hyperkalorische Sondennahrung Sinn. Anne-Marie Wills von der Harvard Medical School in Boston hat 24 Patienten mit ALS und PEG-Sonde in ihre Phase-II-Studie aufgenommen. Teilnehmer erhielten 125 Prozent des errechneten Kalorienbedarfs über erhöhte Mengen an Fetten beziehungsweise Kohlenhydraten. Bei der Kontrollgruppe gab es die übliche Zusammensetzung. Primäre Endpunkte waren Verträglichkeit und Sicherheit – hier schnitten beide Varianten gut ab. Unter der kohlenhydratreichen Form nahmen Studienteilnehmer sogar leicht zu – nicht aber bei der fettreichen, hyperkalorischen Form. Aufgrund der geringen Zahl an Studienteilnehmern lassen sich kaum Empfehlungen ableiten. Will fordert deshalb, eine Phase-III-Studie durchzuführen.
Mit entsprechenden Strategien gelingt es vielleicht schon bald, die Lebenserwartung von ALS-Patienten zu verbessern – von Möglichkeiten zur Heilung sind Ärzte meilenweit entfernt. Wissenschaftler versuchen deshalb, neue Zielmoleküle zu identifizieren. Im Zentrum steht die MELK/ICM-Technologie (Multi-Epitop-Ligand Kartographie/Imaging Cycler Mikroskopie). Damit gelang es, spezielle Multi-Protein-Cluster im Blut von ALS-Patienten zu erfassen und Effekte von NP001 vorherzusagen. Dieses kleine Molekül reguliert die Aktivität inflammatorischer Makrophagen und Monozyten herunter. Nach Misserfolgen bei früheren Studien hoffen Forscher jetzt, geeignete Subpopulationen von ALS-Patienten zu ermitteln. Eine Phase-I-Studie zeigte, dass NP001 sicher ist und dosisabhängig Effekte auf Entzündungsmarker hat. Jetzt müssen sich weitere Untersuchungen anschließen, und Jahre werden ins Land gehen.
ALS ist kein Einzelfall – weltweit kommt die Forschung bei seltenen Erkrankungen nur zäh voran. Von entsprechenden Krankheitsbildern sind jeweils nur wenige Menschen betroffen. Die Gesamtzahl ist dennoch groß. Allein für Deutschland schätzt die Allianz Chronischer Seltener Erkrankungen (ACHSE) vier Millionen Patienten. Umso wichtiger sind öffentlichkeitswirksame Aktionen, beispielsweise die „Ice Bucket Challenge“ im letzten Sommer. Dazu ein paar Zahlen: Die international tätige ALS Association verzeichnete Mitte 2014 etwa 41,8 Millionen US-Dollar an Spendengeldern. Bei der Berliner Charité waren es immerhin knapp 1,5 Millionen Euro. „Zur Aufrechterhaltung und Weiterentwicklung des ALS-Teams an der Charité besteht ein Finanzierungsbedarf von 550.000 Euro pro Jahr“, heißt es vom Klinikum. „Diese Mittel sind notwendig, da die gesetzlichen und privaten Krankenversicherungen lediglich 20 bis 30 Prozent der realen Kosten übernehmen.“ Teile der Gelder fließen auch in Forschungsprojekte und in Netzwerkaktivitäten. Mit dem einmaligen Eisregen, respektive Geldregen, wird es nicht getan sein.