„Eine schlechte Verdauung ist die Wurzel allen Übels", wusste bereits Hippokrates. In der Tat hat das Darmmikrobiom großen Einfluss auf den gesamten Körper. Ist es beschädigt, ist auch die Funktionstüchtigkeit von Herz, Psyche und Gehirn bedroht, wie aktuelle Studien zeigen.
Immer stärker rückt das menschliche Mikrobiom in den Fokus der medizinischen Forschung. Die Zusammenstellung der Mikroorganismen im Darm hat großen Einfluss auf den gesamten Organismus. Und jedes Mikrobiom ist einzigartig – so einzigartig wie eine Familie: Forscher am Institut für Physik des Massachusetts Institute of Technology in Cambridge kamen zu der Erkenntnis, dass Familien ein stabiles und unverwechselbares Mikrobiom teilen. Es ist so einzigartig wie ein Fingerabdruck und wechselt bei einem Umzug ebenfalls die Wohnung. Nach 24 Stunden war ein neu bezogener Wohnraum von der vorigen Wohnung bezüglich der mikrobiologischen Besiedlung nicht mehr zu unterscheiden. Pro Familie waren 2.000 bis 20.000 unterschiedliche Bakterienarten nachweisbar. Der größte Anteil unserer Mikroorgansimen befindet sich im Darm. Bei einer gesunden Darmflora sollten die guten Bakterien mindestens einen Anteil von 85 Prozent haben und die pathogenen Keime maximal 15 Prozent. In unserem Darm leben 100 Billionen hauptsächlich anaerobe Bakterien, die über 1.000 Spezies angehören. Während der Magen und der obere Dünndarm nur gering besiedelt ist, nimmt ihre Zahl in Richtung Dickdarm stetig zu. Die Oberfläche des Darms beträgt über 200 m2 und ist damit etwa 100-mal so groß wie die der Haut. Um zu verhindern, dass über diese große Oberfläche pathogene Keime eindringen können, besitzt der Darm mehrere Verteidigungslinien. Die früher als Darmflora bezeichneten Darmmikrobiotika, die Darmschleimhaut und das darmassoziierte Immunsystem arbeiten synergistisch zusammen. Diese bilden eine funktionelle Einheit, welche heute unter dem Begriff Darmbarriere zusammengefasst wird. Überwindet ein pathogener Keim diese Barriere, so wird es vom unspezifischen Immunsystem auf verdächtige Oberflächenstrukturen (PAMP – pathogen-associated molecular patterns) überprüft und ggf. eine Zerstörung eingeleitet.
Die Achse Darm–Immunsystem ist einleuchtend. Doch das Mikrobiom hat Verbindungen bis ganz nach oben, ins Gehirn. Das Mikrobiom könnte zukünftig genutzt werden, um einem Schlaganfall vorzubeugen oder die Prognose nach einem Insult zu verbessern. Professor Dr. Ulrich Dirnagl von der Charité Berlin forscht auf diesem Gebiet. „Wir haben festgestellt, dass viele Schlaganfallpatienten eine Pneumonie entwickeln und uns gefragt, woher die Bakterien kommen“, so Dirnagl. Dr. Ulrich Dirnagl, Charité Berlin Nach einem Schlaganfall verändert sich das Immunsystem, die Zusammensetzung der Mikrobiotika und die Darmdurchlässigkeit. Damit wird die Darm-Hirn-Achse gestört. Da der Schlaganfall das autonome Nervensystem beeinflusst, wird auch das enterale Nervengeflecht moduliert. Dirnagl hält es für vorstellbar, dass Schlaganfallpatienten in der Sekundärtherapie Probiotika als Adjuvans einnehmen, um das Mikrobiom wieder in Balance zu bringen.
Auf der anderen Seite kann das Risiko für einen Schlaganfall gesenkt werden, wenn das Mikrobiom durch Antibiotika verändert wird. Bereits im Jahr 2007 wurde in der FAZ berichtet, dass das Antibiotikum Minocylin die Folgeschäden eines Schlaganfalls drastisch reduzieren kann, wenn es zeitnah nach dem Ereignis gegeben wird. Damals erklärten die Mediziner dies damit, dass das Antibiotikum Hirnentzündungen unterdrückt. Im Fokus des Mikrobioms kommt dieser Studie eine völlig neue Bedeutung zu. In ihrer Promotionsarbeit hat die Medizinerin Dr. Katarzyna Winek, Charité Berlin, im Mausmodel den Zusammenhang zwischen Schlaganfällen und dem Mikrobiom untersucht. Sie vermutet, dass sich die positiven Ergebnisse teilweise auf den Menschen übertragen lassen. Gleichzeitig warnt sie davor, dass eine Mikrobiomveränderung nach einem Schlaganfall auch proinflammatorische und weitere negative Effekte auf das ischämische Gehirn haben kann.
Auch bei psychiatrischen Erkrankungen ist das Mikrobiom beteiligt. So unterscheidet sich etwa bei Autisten die Art bestimmter Bakterien von jenem bei Gesunden. In einer Publikation im Mikrobiomjournal wird sogar der Ausblick auf mögliche Therapien von Autisten gewagt. Einen aufsehenerregenden Versuch machten auch Kelly et al. Die Forschergruppe transplantierte den Stuhl von depressiven Patienten in unter Sterilbedingungen aufgewachsenen Ratten. Die Tiere veränderten radikal ihr Verhaltensmuster, sie wurden ängstlich und zeigten depressives Verhalten. Ebenfalls wurde eine Veränderung im Tryptophanstoffwechsel festgestellt. Der fast schon lyrisch klingende Titel der Publikation: „Transferring the Blues“. Weitere Studien müssen zeigen, ob durch Probiotika Depressionen gebessert werden können. In einer anderen Studie desselben Autors wird auch ein Zusammenhang des Mikrobioms zu Autismus und Schizophrenie hergestellt. Eine Arbeitsgruppe um Kennedy et al. fand ebenfalls Fakten für eine Veränderung des Tryptophanstoffwechsels durch eine Dysbalance des Mikrobioms.
Experten sehen in der Mikrobiomforschung ein neues Zeitalter in der Prävention, Diagnostik und Therapie in der Medizin anbrechen. Forscher des „Tübiom-Projektes“ sammeln derzeit 10.000 Stuhlproben, um Grundlagenforschung zu betreiben. Die Probanden erfahren nach der Analyse, wie ihr Mikrobiom im Vergleich zum Querschnitt zusammengesetzt ist. Autismus, Demenz, Diabetes – die Vernetzung zum enteralen Mikrobiom erscheint grenzenlos. Die Autoren einer 2018 publizierten japanischen Studie warnen davor, dass Protonenpumpenhemmer das Mikrobiom nachhaltig beeinflussen können und die Sterblichkeitsrate erhöhen. Eine Dysbalance der Mikroben, besonders im Darm, kann Zivilisationskrankheiten wie Übergewicht, Diabetes, Reizdarm, Depressionen und zahlreiche weitere Krankheiten begünstigen. Die US-amerikanischen National Institutes of Health (NIH) haben mittlerweile das humane Mikrobiomprojekt (HMP) ins Leben gerufen. Das Ziel ist, 200.000 Mikrobiom-Proben zu charakterisieren und in die Datenbank einzuspeisen. „Die potenziellen Anwendungen für diese Datenbank und die Art der wissenschaftlichen Fragen, die wir nun stellen können, sind nahezu grenzenlos“, so Professor Dr. Rob Knight von der University of California.