Das große Küchenmesser steckt noch im Hals, das Blut blubbert nur so aus der Wunde. Ich komme ins Schwitzen. Dann atme ich durch und rücke erstmal mein Sofakissen zurecht. Vom riesigen Potenzial der mentalen Vorbereitung.
Es ist nachts um 2 Uhr, vor mir liegt ein Patient mit in suizidaler Absicht zugefügter Stichverletzung im Hals. Das große Küchenmesser steckt noch, das Blut tropft und die Wunde blubbert. Ich fange an, zu schwitzen. Während der Intubation spiegelt sich das Licht des Laryngoskops kurz hinter der Stimmritze an etwas metallenem, der Bougie trifft auf abrupten Widerstand.
Und auch der nächste Einsatz an dem Tag hat es in sich: Verkehrsunfall mit Fußgänger vs. PKW, die Patientin deutlich vigilanzgemindert, kritisch, offensichtlich beidseitige Femurfraktur. Ich beginne mit XABCDE, während meine Teamkollegin im Hintergrund zuarbeitet. Was ein krasser Dienst heute. Und das alles passierte innerhalb von nur 20 Minuten. Nein! Doch. Oh.
Plot Twist: Während all dem sitze ich zu Hause im Schneidersitz auf meiner Couch, trinke Tonic und habe Lo-Fi-Beats laufen. Wir befinden uns gerade in einem Simulationssetting – gleichzeitig simpel und doch komplex; surreal, aber realistisch; isoliert, aber mittendrin.
Warum nutzen wir in der Medizin Simulationen? Wohl vor allem, um uns auf die Dinge vorzubereiten, für die man vorbereitet sein sollte, um wichtige Arbeitsabläufe zu trainieren, bis sie als Automatismen ablaufen, um seine Performance zu steigern. Leider haben nur wenige Menschen regelmäßigen Zugang zu entsprechenden Locations, Expertise und Equipment, um an Simulationen teilnehmen zu können. Jetzt, zu Pandemie-Zeiten, ist es schwieriger denn je – bei aller Initiative – einen Platz an der Puppe zu ergattern. Doch es gibt eine Lösung.
Wir lieben ja Low-Budget-Simulation – und in diesem Artikel präsentiere ich euch die wohl vielfältigste und gleichzeitig billigste Simulationsart, die es so gibt. Meiner Meinung nach eine der besten Möglichkeiten, sich fit zu halten und vorzubereiten. Alles was es dafür braucht, ist der eigene Kopf und ein paar Minuten Ruhe. Und diese Möglichkeiten gibt es, sich für den Job fit zu halten.
Um Mental Rehearsal zu praktizieren, stellt man sich bestimmte (Notfall-) Situationen bildlich im Kopf vor und trainiert dabei verschiedenste Skills. Mental Rehearsal, auch Mental Practice (MP) genannt, bietet sich insbesondere an, um Situationen zu üben, in denen mit standardisierten Abläufen oder strukturiert nach Algorithmen vorgegangen werden muss. Es ist eine Sache, das ABCDE-Schema auswendig zu lernen und vorbeten zu können, aber eine ganz andere, auch wirklich nach dieser Struktur effizient am Patienten vorzugehen. Das kennen wir wohl alle.
Mit MP wiederholen wir nicht nur irgendwelche Fakten, sondern lassen innerlich einen Film ablaufen, stellen uns aktiv aus unserer Perspektive vor, wie wir am Notfallpatienten vorgehen, wie das Wissen angewandt wird – das ist der wichtige Unterschied.
Wichtige Voraussetzungen für erfolgreiche MP-Sessions:
Hier gibt es natürlich wie immer verschiedene Typen Mensch. Die einen können sich visuell sehr gut alles vorstellen, andere müssen die jeweiligen motorischen Abläufe auch während des MP-Settings nachmachen und gestikulieren wild herum. Alles, was hilft, ist erlaubt.
Und ganz ehrlich, Mental Practice ist etwas, das wir sowieso schon jeden Tag mehrfach benutzen. Wir müssen es nur gezielt einsetzen. Also wenn ihr das nächste Mal unter der Dusche steht und euch vorstellt, wie ihr mit einem perfekten Comeback die Diskussion, die ihr mit eurer Freundin vor 3 Wochen hattet, gewinnt, wechselt einfach kurz den Film.
Interessanterweise werden im Rahmen von MP dieselben neurologischen Pfade und kortikalen Strukturen aktiviert wie bei einer realen Ausführung. Das konnte u. a. mit Hilfe des fMRTs bewiesen werden (Munzert 2009, Roth 1996). Außerdem erhöht es die neurologische Plastizität und führt langfristig zu strukturellen Veränderungen (Debarnot 2014, Lacourse 2004). Witzigerweise scheint auch durch MP allein ohne körperliches Training eine funktionelle Verbesserung, wie etwa Steigerung der Muskelkraft, möglich (Ranganathan 2004). Im schneidenden Fach ist MP auch weit verbreitet, um OP-Schritte vor Operationen zu wiederholen (Skervin 2021, Cocks 2014).
Die Evidenz ist erstaunlich gut und zeigt, dass MP ähnlich effektiv wie reales Training (!) und deutlich besser als stumpfes Lernen aus einem Buch abschneidet (Kappes 2016). Das konnte in verschiedenen Bereich demonstriert werden, u. a. für Lumbalpunktionen, Venenpunktion, und chirurgische Fertigkeiten (Bramson 2011, Sanders 2008, Sanders 2007, Bethalon 2004, Sanders 2004). Und auch Soft Skills lassen sich verfeinern. MP scheint effektiv die Teamdynamik und Kommunikation zu verbessern, z. B. bei Schockraumteams in anschließenden Trauma-Simulationen (Lorello 2016).
Das erste Mal bewusst habe ich MP genutzt, um mich auf meine ersten Blutentnahmen und Zugänge vorzubereiten (so banal es klingen mag). Über Wochen habe ich abends die benötigten Materialien und Schritte für die Anlage eines venösen Zugangs visualisiert, wodurch ich mich anschließend ab dem ersten Piks des Tages allein darauf konzentrieren konnte, den Rollvenen hinterherzujagen. Und auch meine Bootsführerscheine habe ich wohl Mental Practice mit zu verdanken (Fahrstunden = teuer). Inzwischen übe ich z. B. den mSTART Triage-Algorithmus regelmäßig mit Hilfe von MP, um ihn im Fall der Fälle schnell abrufen zu können. So kann also wahrscheinlich auch die Triage beim MANV sicherer durchgeführt werden – es ist ja nicht mehr das erste Mal. Man hat es schon hundertmal gemacht (im Kopf).
Nicht nur Abläufe und Interventionen werden so effektiv gedrillt, sondern auch die Indikationsstellung und Entscheidungsfindung bei seltenen Ereignissen (u. a. Koniotomie, Thorakotomie). Denn Neues und Seltenes macht Angst, man fühlt sich schnell unsicher und überfordert. Wenn man diese Dinge aber vorher mehrfach wiederholt hat, sorgt es zwangsläufig dafür, dass in einer realen Situation die Hürden nicht mehr so groß sind und Entscheidungen mehr rational als emotional ablaufen können. Man hat ja bereits mehrfach im Kopf die Indikation z. B. zur Thorakotomie gestellt – es ist also nichts absolut Neues und Unerwartetes mehr.
Und wer sich jetzt fragt: „Wie komisch ist das denn bitte, sich mit geschlossenen Augen irgendwo hinzusetzen, mit den Armen in der Luft herumzustochern und Selbstgespräche zu führen?“ – das ist es auch. Keine Frage. Habt ihr schonmal Leute bei VR-Videospielen beobachtet? Aber wir sind immerhin nicht die einzigen komischen Käuze auf dieser Welt, denn die Technik ist unter anderem bei Spezialeinheiten, im Spitzensport, sogar bei professionellen Casinospielern, Astronauten und den Blue Angels verbreitet.
Vor jeder Übung und Flugshow setzt sich das Team zusammen hin und praktiziert etwas, das liebevoll „Chair Flying“ genannt wird: Sie gehen im Kopf jedes Detail der Flugstrecke in Echtzeit durch, der Leader spricht die Kommandos, zählt die Sekunden. Mental Practice auf Höchstniveau. Sieht so aus:
Als eine mögliche Abwandlung kann man den Ablauf des MP aufschreiben und hat im Ergebnis einen Aufsatz in der ersten Person zu einer bestimmten Situation, den man folgend als Leitfaden für weitere MP-Sessions verwenden kann (ggf. als Audiodatei). Hab es vor kurzem ausprobiert, das Feedback war durchaus positiv (NotSan-Azubis). Und falls ihr noch Ideen braucht: Nutzt den Zufallspatientengenerator!
Für die Leute, die nur runtergescrollt haben, um die Zusammenfassung zu lesen: Hier seid ihr richtig.
Bildquelle: Jake Hills, unsplash.