Mit der Diskussion um den zweiten Booster gegen Corona taucht auch der Begriff der Antigenerbsünde wieder auf. Eine neue Studie hat sich dem nun gewidmet. Und auch Karl Lauterbach meldet sich zu Wort.
Die derzeit erhältlichen Corona-Impfstoffe basieren alle auf der ursprünglichen SARS-CoV-2-Linie aus Wuhan. Mit Auftauchen neuer Corona-Varianten befürchtete man, dass diese sich der Immunantwort entziehen können und die Impfstoffe somit an Wirkung verlieren. Das Stichwort ist hier die sogenannte Antigenerbsünde.
Gemeint ist damit die Tendenz des Immunsystems nach einer Infektion mit einem Virus, bei einer Folgeinfektion mit einer ähnlichen Virusvariante, nur Antikörper gegen Epitope der ersten Virusvariante zu bilden. Im Fall der Corona-Impfung würde das bedeuten, dass eine Erstimpfung das Immunsystem so trainiert, dass es hauptsächlich die ursprüngliche Wuhan-Corona-Variante bekämpft und nicht mehr optimal auf neue Varianten anspicht.
Das Thema Antigenerbsünde wird derzeit im Rahmen der Debatten um eine Viertimpfung heiß diskutiert. Erst vor ein paar Tagen warnte Prof. Andreas Radbruch, Immunologe und Vizepräsident der Föderation europäischer immunologischer Fachgesellschaften (EFIS), vor exzessivem, wiederholtem Boostern. Mit Blick auf die Antigenerbsünde hätte man „durch dreimaliges Boostern quasi sein ‚immunologisches Pulver verschossen‘“, sagt Radbruch (wir berichteten).
Er meint damit folgendes Problem: Weist eine neue Virusvariante immer noch Epitope auf, die eine Antikörperproduktion hervorrufen, so binden die produzierten Antikörper mit sehr viel geringerer Affinität an die neuen mutierten Epitope. Zudem wird die Immunantwort naiver B-Zellen durch die bereits vorhandenen, gegen die ursprüngliche Virusvariante gerichteten Antikörper gehemmt. Das hat eine Abschwächung der Immunantwort zur Folge, da die Produktion von affineren und daher besser geeigneten Antikörpern unterdrückt wird.
Doch laut einer neuen Studie scheint das nicht so dramatisch zu sein, wie befürchtet. In der Preprint-Studie, an der unter anderem Virologin Sandra Ciesek und Biontech-Chef Ugur Sahin mitgewirkt haben, sollte untersucht werden, wie sich eine Omikron-Durchbruchsinfektion bei Geimpften auf die B-Zellantworten auswirkt. Die langlebigen B-Gedächtniszellen gehen im Laufe einer Primärinfektion aus aktivierten B-Zellen hervor und spielen damit eine große Rolle bei der Antigenerbsünde.
Für die Studie untersuchten die Forscher Blutproben von Personen, die mit dem mRNA-Impfstoff von Biontech geimpft waren. Die Probanden waren entweder zwei- oder dreifach geimpft und hatten entweder eine Durchbruchsinfektion mit Omikron oder keine Infektion nach der Impfung durchgemacht. Die Forscher führten mit den gesammelten Proben sowohl Pseudovirus- als auch Lebendvirus-Neutralisationstests durch.
Wie sich herausstellte, hatten Geimpfte, die noch nicht mit Omikron in Kontakt gekommen waren, unterschiedlich hohe Neutralisationsleistung gegen verschiedene Corona-Varianten – darunter Omikron BA.1, BA.2 und die Varianten Alpha, Beta und Delta. Dagegen war die Neutralisationsaktivität von Geimpften mit Omikron-Durchbruchsinfektion gegen alle getesteten Variantenstämme beinahe gleich hoch.
Die Forscher bestätigten zudem die Erkenntnis aus anderen Studien, dass die B-Gedächtniszellen von Geimpften nach wie vor die verschiedenen Varianten erkennen können. Eine weitere wichtige Erkenntnis der Studie: Eine Omikron-Durchbruchsinfektion verstärkt diesen Effekt bei den Geimpften noch. Die Forscher wiesen bei Probanden nach einer Durchbruchsinfektion mehr B-Gedächtniszellen auf, die sich gegen die konservierten Epitope von SARS-CoV-2 richten und nicht nur mehr B-Zellen, die sich gegen Omikron-spezifische Epitope richten.
Die Ergebnisse deuten darauf hin, dass der Pool an B-Gedächtniszellen trotz der Prägung durch eine vorangegangene Impfung über eine ausreichende Plastizität verfügt, um angemessen auf neue Varianten zu reagieren. Die Forscher spekulieren abschließend, dass ein an Omikron angepasster Impfstoff möglicherweise eine vorteilhaftere Impf-Strategie wäre, als einen weiteren, vierten Booster des gleichen Impfstoffs zu verabreichen.
Diesen einen spekulativen Satz am Ende des Fazits griff Gesundheitsminister Karl Lauterbach, bekanntermaßen Verfechter einer generellen Viertimpfung ab 60 Jahren, prompt auf Twitter auf. Diese „wichtige Studie“ zeige, dass eine zukünftige Omikron-Impfung auch Schutz gegen andere Varianten geben dürfte, schreibt er dort. Er drehte den spekulativen Ausblick der Wissenschaftler also in etwas, das einer Tatsachenbehauptung zumindest sehr viel näherkommt.
Das gab dann auch ordentlich Gegenwind auf Twitter, denn die Autoren der Studie hatten genau das eben nicht untersucht. Bisher gibt es ohnehin noch keine publizierten Human-Daten zu einem Omikron-spezifischen Impfstoff. In den Tierversuchen, inklusive Primatenmodelle, waren die immunologischen Unterschiede zwischen einem vierten Standard-Booster und dem Omikron-spezifischen Booster eher überraschend gering ausgeprägt als besonders eindrucksvoll. Es sind also schon noch ein paar Fragezeichen zu setzen. Erste klinische Daten zu den Omikron-spezifischen Boostern werden Ende April, Anfang Mai erwartet.
Bildquelle: Adrián Valverde, unsplash