Männlichen Rauchern fehlt häufiger das Y-Chromosom in Blutzellen als Nichtrauchern. Je stärker sie rauchen, desto höher ist die Verlustrate. Ist das der Grund für die höheren Krebsraten bei Männern – jenseits von Lungenkrebs – und für ihre höhere allgemeine Mortalitätsrate?
In einer kürzlich im Fachmagazin Science veröffentlichten Studie konnten schwedische Forscher zeigen, dass männlichen Rauchern häufiger das Y-Chromosom in einem Teil der Blutzellen – insbesondere den Leukozyten – fehlt. Dieser „Loss of chromosome Y“ (LOY) hängt mit höheren Raten von nicht-hämatologischen Krebsarten zusammen. Diese Tatsache könnte die höhere Krebsmortalität von männlichen Rauchern erklären, z. B. für Tumoren im Hals-Kopf-Bereich, mutmaßen die Forscher. So erkranken in Deutschland jährlich etwa 3.400 bzw. 4.100 Männer an Kehlkopf- bzw. Speiseröhrenkrebs, aber nur 460 bzw. 1.000 Frauen. Je stärker die Männer rauchten, desto höher waren die Verlustraten des Y-Chromosoms. „Die Ergebnisse deuten darauf hin, dass Rauchen den Verlust des Y-Chromosoms verursachen kann und dass dieser Prozess reversibel ist. Wir fanden heraus, dass Zellen mit Verlust des Y-Chromosoms bei Ex-Rauchern nicht häufiger waren als bei Nichtrauchern“, sagt Lars Forsberg, einer der Autoren.
Im Rahmen der Studie untersuchten die Forscher die Daten von insgesamt 6.014 Männern aus drei unabhängigen, prospektiven Kohortenstudien. Neben dem Raucherstatus berücksichtigen sie weitere Faktoren: Außer Alter und BMI wurden medizinische Daten zu Bluthochdruck, Blutfettwerten oder Diabetes in die Analyse mit eingeschlossen, genauso wie Informationen zu Alkoholkonsum, sportlicher Aktivität oder Bildungsniveau der Studienteilnehmer. Blutproben von allen Teilnehmern wurden auf bestimmte, für das Y-Chromosom typische, genetische Marker hin untersucht. Aufgrund dieser Daten konnten die Forscher die Häufigkeit der Y-Chromosomen in den Blutzellen, und damit deren Verlust, abschätzen. Dabei korrelierten die Faktoren Alter und Rauchen mit LOY. Bei zwei der Kohorten waren die Teilnehmer zwischen 70,7 und 83,6 Jahre bzw. 69,8 und 70,7 Jahre alt. Bei etwa 13 % der ersten Kohorte und rund 16 % der zweiten zeigte sich der Verlust des Y-Chromosoms. Die Teilnehmer der dritten Kohorte waren zwischen 48 und 93 Jahren alt. Hier waren 7,5 % von LOY betroffen, allerdings rund 15 % der Studienteilnehmer über 70 Jahren. Das entspricht den Raten von 13 % bzw. 16 % bei den anderen beiden Kohorten, bei denen die Teilnehmer alle über 70 Jahre alt waren. Das Auftreten von LOY ist also altersabhängig.
Es gab auch einen starken Zusammenhang zwischen dem Verlust des Y-Chromosoms in einem bestimmten Teil der Blutzellen und Rauchen. Raucher hatten eine deutlich höhere Fraktion von Blutzellen ohne Y-Chromosom verglichen mit Nichtrauchern oder ehemaligen Rauchern. Die Forscher schätzen, dass Raucher ein 2,4 bis 4,3 mal höheres Risiko für LOY haben als Nichtraucher. Bei der Analyse der Daten stellten die Autoren außerdem fest, dass starke Raucher häufiger von LOY betroffen waren, d.h. die von LOY betroffenen Raucher rauchten mehr, als diejenigen ohne LOY. Im Klartext heißt das: LOY bei Rauchern ist dosisabhängig.
Außerdem scheint der Prozess reversibel zu sein, denn LOY war nicht häufiger bei ehemaligen Rauchern als bei Nichtrauchern. Deshalb gehen die Autoren der Studie davon aus, dass „LOY durch Rauchen induziert und aufrechterhalten wird“. Unklar bleibt allerdings, ob der durch Rauchen induzierte Verlust des Y-Chromosoms in Blutzellen eine direkte Rolle bei der Entstehung von Krebs spielt. Ein mögliches Szenario ist, dass die Toxine im Zigarettenrauch generell chromosomale Anomalien induzieren, darunter auch den Verlust des Y-Chromosoms. Diese Hypothese geht davon aus, dass LOY dann eine neutrale Mutation ist, eine sogenannte „passenger mutation“. Solche Mutationen sind charakteristisch z. B. für eine bestimmte Krebsart, lösen den Krebs aber nicht aus. Sie könnten allerdings als Marker für die Krebsart dienen. Analog dazu, könnte LOY ein Marker für Chromosomenschäden sein. Diese werden durch Rauchen gefördert und sind mit einem höheren Krebsrisiko und einer höheren Mortalität assoziiert.
Die Autoren der Studie gehen davon aus, dass es einen Kausalzusammenhang zwischen LOY und dem erhöhten Krebsrisiko für Männer gibt, wahrscheinlich aufgrund der Rolle der Blutzellen für das Immunsystem und die Tumorsuppression. Bereits in einer früheren Studie konnte das Forscherteam zeigen, dass der Verlust des Y-Chromosoms mit einer höheren Mortalität zusammenhängt. „Männer, die das Y-Chromosom in einem großen Teil ihrer Blutzellen verloren hatten, hatten eine geringere Überlebensrate, unabhängig von der Todesursache. Wir konnten auch eine Korrelation zwischen dem Verlust des Y-Chromosoms und einem höheren Risiko für Krebsmortalität feststellen“, sagt Lars Forsberg. Um diese Hypothese zu testen, untersuchten die Forscher in ihrer aktuellen Studie gezielt bestimmte Zelltypen bei drei 91-Jährigen, krebsfreien Studienteilnehmern. Sie testeten Granulozyten, CD4+ T-Lymphozyten, CD19+ B-Lymphozyten und Fibroblasten auf LOY. Dabei zeigte sich, dass die Granulozyten deutlich häufiger von LOY betroffen waren als die anderen Zelltypen. Granulozyten gehören zu den Leukozyten und sind Teil der zellulären Immunantwort. Wäre LOY lediglich eine neutrale Mutation, sollten alle Zelltypen zufällig verteilt betroffen sein – für die Autoren ein Hinweis, dass der Verlust des Y-Chromosoms tatsächlich mit der Krebsentstehung zusammenhängt. „Unsere Ergebnisse deuten darauf hin, dass das Y-Chromosom eine Rolle in der Tumorsuppression spielt und sie könnten erklären, warum Männer öfter an Krebs erkranken als Frauen“, so Jan Dumanski, Co-Autor beider Studien.