Frauen werden pharmakologisch in gleicher Weise therapiert wie Männer – mit negativen Folgen für weibliche Patienten. Das Geschlecht beeinflusst auch den Behandlungserfolg bei Krebs, wie eine Onkologin auf dem Kongress der ESMO betonte. Welche geschlechtsspezifischen Unterschiede gibt es?
Ob ein Patient männlich oder weiblich ist, macht in der Medizin einen gewaltigen Unterschied. „Es gibt immer mehr Hinweise, dass das Geschlecht einen großen Einfluss auf den Behandlungserfolg bei Krebs hat“, erklärte Dr. Anna Dorothea Wagner vom Universitätsspital in Lausanne auf dem diesjährigen Kongress der European Society for Medical Oncology (ESMO). Dort spielte das Thema Gendermedizin eine große Rolle.
In einem Kommentar schreibt sie, dass die besondere Beachtung der biologischen Unterschiede von Mann und Frau in anderen Forschungsbereichen wie etwa in der kardiovaskulären Medizin bereits berücksichtigt werden. Es sei nun höchste Zeit, dies auch in der Onkologie zu tun. Was können Ärzte von der Gendermedizin lernen?
Kardiovaskuläre Erkrankungen gelten zum Beispiel nach wie vor als Männerkrankheit. „Zahlen des Statistischen Bundesamts belegen, dass derzeit etwa gleich viele Frauen und Männer an einem Herzinfarkt oder an einer Herz-Kreislauf-Erkrankung sterben“, so Professor Vera Regitz-Zagrosek, Institut für Geschlechterforschung in der Medizin an der Charité in Berlin. Die Kardiologin ist Direktorin des Instituts für Geschlechterforschung in der Medizin (GiM) der Berliner Charité. Sie hat die deutschlandweit einzige Professur für Frauenspezifische Gesundheitsforschung mit Schwerpunkt Herz-Kreislauf-Erkrankungen inne. Die Ärztin ist zudem Gründungspräsidentin der International Society for Gender in Medicine und der Deutschen Gesellschaft für Geschlechtsspezifische Medizin.
Während Herzerkrankungen Männer wie Frauen im gleichen Maße betrifft, so können sich Symptome und Krankheitsverlauf doch erheblich unterscheiden. Östrogen hat antiinflammatorische Eigenschaften, deshalb bekommen Frauen später Herz-Kreislauf-Erkrankungen als Männer. Bei Männern sind die Morbidität und Mortalität der Koronaren Herzkrankheit (KHK) gegenüber prämenopausalen Frauen deutlich erhöht. Nach den Wechseljahren nähern sich die Werte jedoch an. Nach der Menopause steigt bei Frauen das LDL erheblich an, wird aber weniger effizient behandelt als bei Männern. Außerdem fällt in dieser Lebensphase die estrogenbedingte Hemmung der zellulären Hyperplasie der glatten Muskulatur weg. Plaque-Rupturen sind bei Frauen über 50 Jahre deutlich häufiger zu sehen als bei jüngeren Frauen, so Dr. Christopher Hohmann von der Uniklinik Köln in einem Beitrag.
Phase-III-Studien sind häufig nicht prospektiv darauf ausgelegt, Wirkungen von Medikamenten bei Männern und Frauen differenziert zu erfassen. Der Großteil der Probanden bei Arzneimittelstudien ist männlich. In vielen Fällen lassen sich diese Daten auf weibliche Patienten nicht extrapolieren. Frauen haben (meist) ein geringeres Körpergewicht als ein Mann, ein anderes Verhältnis von Fett- zu Muskelmasse und einen anderen, zyklusabhängigen, Wassergehalt. Daraus ergeben sich veränderte Verteilungsräume, die einen Einfluss auf die Arzneistoffkinetik haben. Hormone beeinflussen die Kinetik und Dynamik von Arzneistoffen zusätzlich. Hepatische Enzyme wie Cytochrom-P450-Subtypen sind dafür ein gutes Beispiel. Sie metabolisieren etwa 50 Prozent aller Arzneistoffe. Frauen verfügen über weniger aktives Cytochrom P450 2D6. Alle Pharmaka, die hierdurch inaktiviert werden, wirken bei Frauen stärker, etwa die Betablocker Propanolol und Metoprolol. Frauen haben daher einen um etwa 80 Prozent höheren Propranolol- und eine um 30 bis 40 Prozent höhere Metoprolol-Plasmakonzentration. Die Fläche unter der Kurve (AUC) von Metoprolol ist bei Frauen etwa doppelt so hoch wie bei Männern und steigt bei Einnahme eines oralen Kontrazeptivums zusätzlich um weitere 30 bis 40 Prozent an. „Wenn ein Mann 100 mg Metoprolol benötigt, beträgt die Dosis bei einer Frau lediglich 50 mg“, so das Ergebnis einer Studie von Eugene et al. Andererseits sind Frauen mit mehr CYP3A4 ausgestattet. Dadurch metabolisieren sie Arzneistoffe wie beispielsweise Methylprednisolon, Nifedipin und Verapamil rascher. Die Behandlung mit Beta-Blockern sollte nicht von Frauen mit Herzinsuffizienz mit reduzierter Ejektionsfraktion (HFrEF) zurückgehalten werden, was nicht selten in der Praxis geschieht. Frauen haben eine bessere Ejektionsfraktion als Männer, deshalb bekommen sie nicht selten weniger Betablocker verordnet. Die demographischen Daten zeigen, dass Frauen mit Herzinsuffizienz in der Regel älter sind als Männer. Vermutlich ist dies ein Grund, warum sie dann einen höheren systolischen Blutdruck, eine höhere linksventrikuläre Ejektionsfraktion und eine niedrigere geschätzte glomeruläre Filtrationsrate aufweisen. Dennoch profitieren sie von der Therapie mit Betablockern. Studien von Kotecha et al. bestätigen, dass es keinen Unterschied in der Wirksamkeit von Beta-Blockern bei HFrEF nach Geschlecht gibt.
Die Inzidenz von Nebenwirkungen, die durch Arzneistoffe mit Wirkung auf das Herz-Kreislauf-System hervorgerufen werden, ist bei Frauen um das 1,5- bis 1,7-Fache höher als bei Männern. In einem Positionspapier fordert die europäische kardiologische Gesellschaft nun geschlechtsspezifische Dosierungsempfehlungen für die Behandlung mit kardiovaskulären Arzneistoffen. Digitalis beispielsweise hat bei Frauen eine erheblich größere Toxizität, ASS wirkt kaum in der kardialen Prophylaxe, wohl aber in der cerebralen. Frauen neigen häufiger zu QTc-Zeit-Verlängerungen und Bluten unter Clipodogrel häufiger als Männer. Bei älteren Frauen mit niedrigem BMI ist die Statin-induzierte Myopathie häufiger. Dies sind nur wenige von vielen Beispielen, für eine differierende Wirkung.
Nicht nur Herzmedikamente wirken bei Frauen stärker, die kinetischen Veränderungen gelten auch für einige Benzodiazepinanaloga. Zolpidem gehört zu den am häufigsten verordneten Schlafmitteln. Frauen bauen den Wirkstoff deutlich langsamer ab als Männer. Zwar treten auch bei Männern Plasmakonzentrationen auf, bei denen mit eingeschränktem Reaktionsvermögen zu rechnen ist, aber deutlich seltener als bei Frauen. Das ergab eine von der amerikanischen Zulassungsbehörde (FDA) durchgeführte Untersuchung. Das geringere Risiko bei Männern liegt mit am Testosteron, welches die enzymatische Aktivität des abbauenden Cytochroms CYP 3A4 erhöht. Die FDA hat die zugelassene Dosis für Frauen bei schnell freisetzendem Zolpidem von 10 auf 5 mg reduziert. „Zolpidem ist ein Beispiel für die Bedeutung der Patientensicherheit. Die Bedeutung geschlechtsspezifischer pharmakologischer Unterschiede in der Pharmakokinetik und Pharmakodynamik von Medikamenten ist heute unbestritten“, so die Notfallmedizinerin Alyson J. McGregor in einem Editorial.
Ein weiterer Aspekt, der bisher unberücksichtigt bleibt: Gender hat als soziokulturelle Dimension auch Einfluss auf die Adhärenz. Dies äußert sich im medikamentösen Einnahmeverhalten: Denn Männer und Frauen nehmen unterschiedlich viele Substanzen zusätzlich zu den verschriebenen Arzneimitteln ein. So warnen Autoren in einer Übersichtsarbeit. Frauen sind beispielsweise auch häufiger als Männer abhängig von Medikamenten wie Schmerzmitteln, so der Drogen- und Suchtbericht 2017.
Bei der Diagnose und Therapie spielt es also sehr wohl eine Rolle, welches Geschlecht der Patient hat. Hat das Geschlecht des Arztes auch einen Einfluss? Prof. Laura Huang ist der Frage nachgegangen, ob Genderaspekte die Versorgungsqualität in einer Notfallaufnahme beeinflussen. In einer Studie zeigte sie, dass die Sterblichkeit nach einem Herzinfarkt niedriger ist, wenn die Patienten von einer Kardiologin behandelt wurden. Die schlechtesten Ergebnisse wurden erzielt, wenn ein männlicher Arzt eine weibliche Patientin behandelte. Werden Patienten von männlichen Ärzten behandelt, starben 12,6 Prozent der Männer im Vergleich zu 13,3 Prozent der Frauen. Wenn die Patienten von Ärztinnen behandelt wurden, starben 11,8 Prozent der Männer verglichen mit 12 Prozent der Frauen. Günstig auf die Sterberate wirkte es sich aus, wenn männliche Ärzte eine weibliche Patientin behandeln und wenn der Frauenanteil im Team hoch war. Eine Erklärung für die Ergebnisse liefert die Studie allerdings nicht.
Nach all den harten Fakten: Gibt es denn nun wirklich eine „Männergrippe“? In den Wörterbüchern von Cambridge und Oxford wird sie folgendermaßen definiert: „eine Erkältung oder eine ähnliche leichte Erkrankung, wie sie von einem Mann erlebt wird, der die Schwere der Symptome als übertrieben empfindet“. Kyle Sue, Professor für Allgemeinmedizin, empfindet diese empirischen Anfeindungen als diffamierend und untersuchte, ob Männer wirklich Weicheier sind und ihre Beschwerden nur dramatisieren. Er fand zahlreiche Beweise dafür, dass Männer wirklich mehr leiden. Ein schwererer Verlauf bei männlichen Patienten konnte beispielsweise für die saisonale Virusgrippe zwischen 2004 und 2010 in Hongkong bestätigt werden. Die höhere Mortalität und Morbidität war auch dann noch gegeben, wenn Begleit- und Vorerkrankungen wie KHK, COPD oder Niereninsuffizienz berücksichtigt wurden. Männer sprechen auch weniger auf Impfungen an, was vermutlich am höheren Testosteronspiegel liegt. Bekannt ist, dass Östrogen die Virenlast zu reduzieren vermag. „Wenn erkältete Männer den ganzen Tag auf der Couch oder im Bett liegen, sei dies ein evolutionär geprägtes Verhalten, dass ihrem Schutz diene. In ihrem geschwächten Zustand könnten sie einem Gegner unterlegen sein“, so der Mediziner. Und er setzt noch einen drauf: „Vielleicht ist es jetzt an der Zeit, männerfreundliche Räume mit großen Fernsehern und Liegesesseln zu schaffen – Räume, in denen sich Männer in Ruhe und in Sicherheit von ihrem schweren Leiden erholen können“.
Auch die Toxikologin Jackye Peretz von der University of Illinois hat Hinweise gefunden, dass Männer tatsächlich anfälliger für Infektionen durch Rhino- und Adenovieren sind. Schuld ist der geringere Östrogenspiegel von Männern. Peretz behandelte noch nicht infizierte Nasenzellen weiblicher und männlicher Spender jeweils mit einer Dosis Östrogen. Anschließend setzten sie die Zellen einer Attacke durch Influenza-A-Viren aus, da diese beim Eindringen in den Körper mit als Erstes die Schleimhaut in der Nase befallen. Obwohl sowohl die Zellen von Männern als auch Frauen mit Östrogen behandelt wurden, erwiesen sich nur die Zellen aus Frauennasen als widerstandsfähiger gegenüber den Viren. Diese vermehrten sich dort deutlich schlechter und langsamer als in den Männernasenzellen. Östrogen kann nur seine Schutzwirkung entfalten, wenn auch der passende Rezeptor vorhanden ist. In männlichen Nasenschleimhautzellen fehlen diese. Die Unterschiede zwischen Mann und Frau sind in medizinischer Hinsicht also alles andere als trivial. Das Bewusstsein dafür ist aber noch lange nicht bei jedem Arzt angekommen. Interessenkonflikt: Der Autor dieses Beitrages ist ein Mann.