Nach wie vor bunkern etliche Staaten Oseltamivir im Zuge ihrer Pandemie-Prophylaxe. Am Sinn oder Unsinn derartiger Maßnahmen scheiden sich wissenschaftliche Geister. Hersteller und unabhängige Forscher bekämpfen sich jetzt über die Fachpresse.
Ein Drama in vielen Akten: Bereits 2006 veröffentlichte Tom Jefferson, Rom, zusammen mit Kollegen eine Metaanalyse über Oseltamivir (Tamiflu®). Er bescheinigte dem Wirkstoff gute Eigenschaften, musste aber bald feststellen, dass Daten aus industrienahen Studien kamen. Jefferson zog seine Arbeit zurück. Bald darauf folgten korrigierte Meta-Analysen. Nach gesellschaftlichem Druck stellte Roche eigene Daten zur Verfügung.
Jefferson aktualisierte seine Meta-Analyse erneut und kam zu wenig schmeichelhaften Resultaten. Oseltamivir verringerte Grippesymptome um lediglich 16,8 Stunden. Einflüsse auf die Hospitalisierungsdauer fand er nicht. Lediglich diagnostisch nicht gesicherte Pneumonien gingen etwas zurück. Bei verifizierten Pneumonien, Bronchitis, Otitis media, Sinusitis oder weiteren Komplikationen fanden Forscher keinen Benefit für Patienten. Besser sah die Sachlage aus, falls Patienten Oseltamivir prophylaktisch einnahmen. Für Angehörige von Grippekranken sank das Risiko um 13,6 Prozentpunkte. Demgegenüber standen Nebenwirkungen wie Übelkeit, Erbrechen und Kopfschmerzen. Grund genug für Jefferson, die Entscheidung vieler Regierungen zu kritisieren, Oseltamivir zu bevorraten.
Grund genug für Firmen, ihrerseits Experten in das umkämpfte Feld zu schicken. Jonathan Van-Tam von der Universität Nottingham kommt bei einer vom Hersteller gesponserten Studie zu positiven Resultaten. Als Grundlage diente die PRIDE-Studie (Post-Pandemic Review of Anti-Influenza Drug Effectiveness) mit Daten von 29.234 Patienten. Betroffene mussten während der Pandemie 2009/2010 stationär behandelt werden. Erhielten sie innerhalb von 48 Stunden nach Auftreten erster Symptome Oseltamivir oder einen anderen Neuraminidase-Hemmer, halbierte sich ihr Sterberisiko. Ab dem dritten Tag zeigten sich nur noch schwache, wünschenswerte Effekte. Van-Tam folgert daraus, die Entscheidung, Oseltamivir-Notfallvorräte seien die richtige Strategie. Nur haben retrospektive Analysen eben ihre Schwächen.
Jetzt liegt eine weitere Arbeit vor. Roche hatte die Multiparty Group for Advice on Science (MUGAS) beauftragt, weitere Analysen vorzunehmen. Arnold S. Monto von der University of Michigan School of Public Health gibt an, Oseltamivir verkürze die Erkrankungsdauer um 25,2 Stunden – Jefferson gab 16,8 Stunden an. Auch hinsichtlich möglicher Nebenwirkungen unterscheiden sich die Fachveröffentlichungen kaum. Monto berichtet weiter, Oseltamivir trage dazu bei, dass Patienten mit einer tiefen Atemwegsinfektion seltener Antibiotika benötigten.
Wissenschaftlich betrachtet ließe sich der Konflikt nur durch randomisierte Studien aus der Welt schaffen. Damit rechnet niemand – bereits 2016 läuft das Oseltamivir-Patent aus. Zumindest hat die Europäische Arzneimittel-Agentur EMA angekündigt, bei Zulassungsverfahren künftig alle Informationen zu veröffentlichen.