Wir Ärzte müssen mehr diskutieren. Selbst wenn wir uns nicht einig werden, tun wir damit uns und unseren Patienten etwas Gutes – auch wenn wir das nicht immer zugeben wollen.
Wie ich schon mehrfach geschrieben habe, arbeite ich – wie ich finde zum Glück – in einer Praxis mit mehreren Ärzten. Ich finde das sehr gut und genieße es, dass ein Kollege mal kurz dazukommen kann, wenn man sich nicht sicher ist oder vielleicht noch zusätzlichen Input brauchen kann.
Ich glaube auch, dass wir uns in den meisten grundsätzlichen Dingen einig sind, auch wenn natürlich jeder seinen eigenen Stil hat (und die Patienten sich ja auch irgendwie dabei dann den Arzt aussuchen, der am besten zu ihnen passt). Aber natürlich sind wir nicht immer einer Meinung – und diskutieren das dann.
Diese Diskussionen halte ich für sehr wichtig, auch, wenn es natürlich manchmal anstrengend ist (und nein, ich will nicht jeden Schnupfen-Patienten ausdiskutieren). Aber gerade in der hausärztlichen Versorgung macht man doch sehr viel mit dem Patienten alleine im Gespräch aus. Da helfen manchmal auch die kurzen Phasen der Urlaubsvertretung, weil vielleicht dem Kollegen doch noch ein Detail auffällt, das man selbst übersehen hatte.
Ein Beispiel: Ich hatte eine Patientin übernommen, die bereits mehrfach bei der Gastroskopie war und ich kam mit ihren Oberbauchbeschwerden nicht weiter. Gefühlt war die gesamte Diagnostik bereits x-mal gelaufen und ich fragte mich, ob das doch eher ein Reizmagen ist und sie somatisiert. Aber meinem Kollegen fiel dann glücklicherweise auf, dass trotz entsprechender Anforderung bei den letzten Gastroskopien keine tiefe Dünndarmbiopsie gelaufen war – es war nämlich dann doch eine Zöliakie. Ich war bis dato felsenfest davon überzeugt, dass die tiefe Dünndarmbiopsie erfolgt war (weil sie eben auch erbeten war und ja meistens bei chronischen Oberbauchbeschwerden standardmäßig gemacht wird).
Aber selbst wenn keinem etwas wirklich Neues auffällt, halte ich die Diskussion über die richtige Behandlung bei einigen Patienten für sehr wichtig. Oder auch die Diskussion über grundsätzliche Praxisabläufe: „Schaffen wir aktuell die Gesundheitsuntersuchungen, oder verschieben wir die erstmal in den Sommer wegen der akuten Infektionswelle?“, „Machen wir wirklich für jede GU ein EKG, selbst wenn es eigentlich nicht unbedingt notwendig ist laut gesetzlicher Vorgabe?“, etc. Auch diese Diskussionen sind notwendig und nicht immer einfach, zu entscheiden.
Um das an dieser Stelle einmal klarzustellen: Ja, es gibt Dinge, die sind nicht zu diskutieren, sondern einfach wahr (ja, die Erde ist rund). So wie es Dinge gibt, die falsch sind (nein, Krebserkrankungen kommen nicht von „unreinen Gedanken“). Da gibt es keinen Kompromiss, sondern wirklich mal eine Wahrheit. Aber es gibt sehr viele Dinge, bei denen es eben NICHT „die Wahrheit“ gibt, die aber zu sehr unterschiedlichen Ergebnissen führen – je nachdem, wo man den Schwerpunkt setzt.
Viele unserer Patienten haben nicht ein Krankheitsbild, sondern viele. Leider (aber verständlicherweise) wird das in den Leitlinien nicht abgebildet, weil sich diese auf ein spezifisches Krankheitsbild beziehen. Gerade bei älteren Patienten kommen durchaus mal 3–4 Krankheitsbilder vor, die alle ihre eigene Leitlinie haben – mit ihren eigenen Medikamenten. Da ist die Diskussion unter Kollegen, was davon verzichtbar und was wichtig ist, durchaus sinnvoll. Gerade mit den Kollegen, die den Patienten schon lange kennen. Zum Beispiel wies mich mein Chef mal darauf hin, dass eine ältere Patientin, die zu Hause noch recht gut alles schafft und sehr patent wirkt, letztes Mal bei einem kurzen Krankenhausaufenthalt ein ausgeprägtes Durchgangssyndrom hatte, von dem sie sich wochenlang erholen musste. Dann überlegt man natürlich ganz anders, ob es sinnvoll ist, eine stationäre Abklärung von Beschwerden zu machen, oder ob das nicht doch ambulant im vertrauten Umfeld geht.
Oder auch die Diskussion über den Sinn und Unsinn immer noch weiterführender Diagnostik – gerade bei älteren Patienten („Muss die 98-jährige Patienten mit Herzfehler noch zur Koloskopie?“, „Wie sinnvoll ist die Eskalation der Diabetes-Therapie beim Patienten mit fortgeschrittenem Bronchialkarzinom und HbA1c von 7,9?“, etc.). In der Diskussion bringt dann jeder – idealerweise – seine Position ein und man kann versuchen, gemeinsam einen möglichst guten Weg zu finden.
Was ich dabei betonen möchte: Es ist der gemeinsame Weg, auf den es ankommt. Natürlich ist jeder von seinem Weg überzeugt und wird auch versuchen, den anderen zu überzeugen. Ich finde es völlig ok, das mit Leidenschaft zu tun, solange es nicht beleidigend oder persönlich wird. Aber es geht am Ende nicht darum, Recht zu haben oder zu diskutieren, nur um des Diskutierens willen.
Es geht darum, den Weg der Diagnostik und der Therapie – oder eventuell auch der Praxis – immer wieder zu anzupassen, wenn es notwendig erscheint. Oder sich eben darauf zu einigen, dass es aktuell so weiterlaufen kann.
Das Problem: Dieser Prozess des „guten Konfliktes“ steht inzwischen manchmal selbst in der Kritik. Wir mögen Einstimmigkeit und Frieden in unseren Gesprächen – aber die wird es, aus den oben genannten Gründen, nie komplett geben. Das wäre auch nicht sinnvoll. So wie es im Körper einen Sympathikus und Parasympathikus gibt und beide immer in einem dynamischen Gleichgewicht stehen müssen, so gehören auch die Konflikte zwischen Wirtschaftlichkeit und umfassender Versorgung, maximaler Sicherheit und Vermeidung von Überdiagnostik, konservatives vs. operatives Vorgehen, etc. immer wieder in die Diskussion. Denn sie müssen an die jeweiligen Realitäten angepasst werden. Und zwar auf Ebene der Patienten (z. B. Faktoren wie Alter, Allgemeinzustand, Vorerkrankungen, etc.), der Praxis (z. B. akute Infektionswellen vs. Präventionsarbeit) und der Gesellschaft (z. B. individuelle Freiheit vs. Solidarität, Priorisierung vs. „Noch-mehr-Geld-in-die-Hand-nehmen“, etc.).
All das sind dynamische Gleichgewichte, die immer wieder neu austariert werden müssen – von einem gesunden und konstanten Basisniveau aus. Das heißt, man braucht in allen Bereichen, auch in der ärztlichen Versorgung, gewisse gemeinsame Grundwerte. Die Details befinden sich in einem kontinuierlichen Prozess, dessen Parameter wir als Ärzte immer wieder anpassen müssen. Und dem WIR uns auch immer wieder anpassen müssen.
Das mag nerven, aber diese Mischung aus Ordnung und Chaos, aus Stabilität und Dynamik und eben dieser Umgang mit widersprüchlichen Meinungen ist genau das, was unser Leben ausmacht. Leben ist nie statisch und in Stein gemeißelt. Es ist ein Prozess, der sich immer wieder anpasst. Ein schöner Gedanke dazu aus einem Fantasy-Buch (ob er es in die gleichnamige Serie schafft, weiß ich nicht):
„Die Welt war nie schwarz und weiß – sie war nicht einmal grau. Sie war schon immer voller Farben, die manchmal in kein Spektrum passen“ (frei zitiert nach Das Rad der Zeit, Robert Jordan).
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