Ist Medizin „sanft“ und „natürlich“, wird sie schon gut für's Kind sein, glauben viele Eltern. Ich habe mir mal die Studienlage zur Osteopathie angeschaut. Spoiler: sanft ja, gut nein.
Ich habe mich kürzlich mal mit Studien auseinandergesetzt, die zur Osteopathie erschienen sind. Ich gebe zu, ich ging den einfachen Weg: Freundlicherweise listet die Akademie für Osteopathie auf ihrer Website alle von ihr gefundenen Studien auf, die ich dann mal durchforstete. Die Akademie wird sicher unbefangen sein, was das Thema angeht (Scherz).
Von den gelisteten 178 Studien interessierten mich naturgemäß nur solche, die eine Schnittmenge zur Pädiatrie aufwiesen; die anderen habe ich mal großzügig übersehen, schließlich habe ich auch zu wenig Ahnung von anderen Fachbereichen. Ach ja, kleine Nebenbemerkung zur Liste: Eigentlich sind das gar nicht alles Studien, sondern auch Vorträge, Beobachtungen, Einzelfallberichte oder gar Dinge, die sich überhaupt nicht mit Osteopathie beschäftigen. Aber sind wir mal nicht kleinlich.
Übrig blieben also 24 Studien mit Bezug zur Pädiatrie, bezugnehmend auf „Osteopathie und …“: ADHS, Hüftreifung bei Säuglingen, Schluckstörungen bei Säuglingen, auditive Wahrnehmungsstörung, Dreimonatskoliken, Säuglingsasymmetrien einschließlich dem kongenitalen Torticollis, Neurodermitis, Lese-Rechtschreib-Schwäche, Tränengangsstenose, Ikterus neonatorum, Wachstumsschmerzen, Adipositas, Schlafstörungen, Asthma, Rechenschwäche und Nasenbluten. Interessiert war ich neben dem jeweiligen Ergebnis vor allem am Studiendesign und den Fallzahlen. Auffällig ist, dass die Mehrzahl der Studien lediglich in Osteopathie-Zeitschriften oder solchen, die anderweitig alternativmedizinisch geprägt sind, veröffentlicht wurden – kaum eine in einem anerkannten Journal. Vielleicht sind bei letzteren die Kriterien zu streng.
Enttäuscht war ich, mit welchem Chuzpe „Studien“ z. B. ohne Kontrollgruppe stattfanden und trotzdem veröffentlicht wurden: Manche der Veröffentlichungen liefen nach dem Prinzip „Osteopath behandelt und befragt danach die Eltern, ob es was gebracht hat“. Dies wird dann groß als „Prä-Post-Studie“ betitelt. Andere Arbeiten wurden nicht randomisiert durchgeführt, bei wieder anderen wurde zwar eine Kontrollgruppe definiert, die keine osteopathische Manipulation bekam, bei der aber nicht sauber definiert war, ob und in welcher Form diese überhaupt therapiert wurde. Müßig zu erwähnen, dass die „Diagnosen“ bei den Probanden in aller Regel durch die Osteopathen selbst gestellt wurden.
Eine ideale Studie wäre eine doppelverblindete, bei der weder Anwender noch Patient wissen, ob und in welcher Form eine osteopathische Handlung vollzogen wird. Verständlicherweise ist dies bei einem Verfahren mit so intensivem Körperkontakt schwer zu designen. Eine Studie wäre aber denkbar, die drei Gruppen definiert: a) Osteopathie, b) Pseudoosteopathie und c) keine Behandlung. Ähnliches wurde bei der Akupunktur durchgeführt und brachte die hinreichend bekannten Ergebnisse: Echte Akupunktur ist einer Pseudoakupunktur („Sham-Acupuncture“) nicht überlegen; es geht um „das Tun“ – d. h. der Placeboeffekt der Aktion an sich ist das Wirksame.
Zurück zur Osteopathie: Einzelstudien, wenn auch schlecht designed, wie sie von der Akademie für Osteopathie gelistet werden, zeigten keine signifikante Besserung in der Behandlung bei Hüftreifungsstörungen der Säuglinge, kongenitalen Torticollis, Lese-Rechtschreib-Schwäche, Tränengangsstenosen, Ikterus, Adipositas, Wirbelsäulenfehlhaltungen bei älteren Kindern und Kreuzschmerzen. Trotzdem werden diese Indikationen von vielen Osteopathen weiterhin gelistet.
Schaut man sich die Studien mit positivem Effekt genauer an, finden sich in aller Regel sehr kleine Fallzahlen oder eine undefinierte (oder nicht vorhandene) Kontrollgruppe. Exemplarisch seien zwei Studien zur Asymmetrie bei Säuglingen herausgegriffen, unzweifelhaft eine beliebte Indikation für eine osteopathische Behandlung. Den Säuglingen wird eine – wie auch immer definierte – asymmetrische Haltung attestiert, nach der osteopathischen Lehrmeinung durch ein „Geburtstrauma“ ausgelöst. Was auch immer das bedeutet, im fachmedizinischen Sinne ist ein Geburtstrauma eine Verletzung einer anatomischen Struktur, also z. B. eine Clavicula-Fraktur oder eine Parese des Plexus brachialis. Es ist leider Usus geworden, sogar Spontangeburten als „traumatisierend“ für den Säugling zu betiteln und damit den Geburtsvorgang an sich zu pathologisieren.
Eine Studie zur Säuglingsasymmetrie von 2009 lässt die Verumgruppe (n = 27) osteopathisch und durch eine Vojta-Gymnastik behandeln, die Kontrollgruppe (n = 28) lediglich nach Vojta. Im Ergebnis findet sich keine Besserung in keiner der Gruppen! Interessanter Nebeneffekt: Auch in der Nachschau findet sich keine komplette Auflösung der Asymmetrie bei den Kindern. Eine andere Studie von 2016 mit ähnlichen Fallzahlen (30 vs. 29) findet eine Besserung in 30 % bei der ausschließlich osteopathisch behandelten Gruppe versus 15 % bei der physiotherapeutisch behandelten Gruppe.
Wo ist der feine Unterschied im Design? In der 2009-Studie wurden die Kinder primär pädiatrisch untersucht, 2016 primär durch einen Osteopathen. Man darf unterstellen, dass 2016 andere Kriterien angesetzt wurden als 2009.
Es gibt auch Reviews zur Osteopathie: So finden Posadzki et al. (2013) viele Mängel in den Studien, die übrig verbleibenden 17 sauberen Arbeiten sind wenigstens randomisiert. Am Ende finden die Autoren nur fünf Arbeiten mit hoher Qualität; hiervon zeigt nur eine signifikante Verbesserungen nach osteopathischer Behandlung, vier zeigen keine Veränderungen. Carnes et al. (2017) reviewen Einflüsse der Osteopathie auf die 3-Monats-Koliken (immerhin im British Medical Journal) und sehen geringe Effekte, bei Verbesserung der Verblindung sind aber keine Effektänderungen mehr zu finden.
Lanaro et al. (2017) haben 5 RCTs ausgewertet und sehen eine Verkürzung der stationären Liegedauer bei Frühgeborenen unter osteopathischer Behandlung – allerdings wird ihrem Review ein mangelndes Auswertungsmodell attestiert, was eventuell zu nicht signifikanten Änderungen führte, wenn richtig angewendet.
Kleinere Arbeiten: Judith Bose findet in ihrer Arbeit zu Saugstörungen keine guten Ergebnisse, „da keine qualitativ hochwertigen Arbeiten vorliegen“, Sascha Gerhardt findet ebenso ernüchternde Ergebnisse für osteopathische Behandlungen bei Lese-Rechtschreibschwäche.
Es ist ähnlich wie bei anderen andersmedizinischen Verfahren: Je höher die Qualität der Studie, je größer die Verblindung von Therapeuten und Patienten, desto mehr weichen die Unterschiede zwischen Verum- und Kontrollgruppe auf. Verfahren, die einen so hohen „Sanftheits“- und „Anfass“-Faktor haben – wie die Akupunktur oder die Osteopathie – sind prädestiniert für einen großen Placeboeffekt. Steht diesem der Leidensdruck und die Erwartungshaltung der Eltern gegenüber, gepaart mit der katalytischen Bahnung durch Hebammen und manche Kinderärzte, ist ein subjektivpositiver Effekt einer jeglichen Behandlung zu erwarten.
Gerade deshalb sollten wir den Eltern gegenüber immer ehrlich sein: Viele der oben genannten „Indikationen“ sind selbstlimitierend oder lassen sich genauso gut mit etablierten Verfahren wie Handling der Säuglinge oder Physiotherapie verbessern, so dass wir nicht auf eine fragwürdige Therapie ausweichen müssen. Für viele andere konstruierte Indikationen gibt es keine validen Studiendaten; hier sollte eine osteopathische Behandlung grundsätzlich obsolet sein. Nebenwirkungen sind ein leerer Geldbeutel, eine unfaire Belastung der Solidargemeinschaft (wenn Krankenkassen aus Marketinggründen die osteopathischen Kosten erstatten) und eine verspätete Behandlung auf andere Weise.
Was bringt Osteopathie? Podcast mit dem Kinderdok zu Gast bei Natalie Grams-Nobmann
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