Was in anderen Berufszweigen selbstverständlich ist, braucht bei den Medizinern eine eigene Initiative: „Gemeinsam klug entscheiden“ hat sich die DGIM auf die Fahnen geschrieben und damit der medizinischen Über- und Unterversorgung in Deutschland den Kampf angesagt.
„Klug entscheiden sollen Ärzte in Zukunft“, propagierte Prof. Dr. Ulrich Fölsch, Generalsekretär der Deutschen Gesellschaft für Innere Medizin e.V. (DGIM) beim 121. Internistenkongress im Februar in Berlin. Diese Aussage impliziert, dass Ärzte das bisher offenbar nicht immer tun. Warum ist das so? Die Ökonomisierung der Medizin sei der Hauptgrund, warum Ärzte derzeit für kluge Entscheidungen finanziell bestraft würden, so Fölsch. Im Klartext bedeutet das: Wenn ein Arzt nicht behandelt oder untersucht, verdienen er bzw. die Klinik nichts. Das führe nicht selten zu einer Überversorgung für den Patienten und belaste die Gesundheitskassen finanziell schwer. Hier will die DGIM Abhilfe schaffen.
Doch nicht nur finanzielle Anreize spielen offenbar bei der medizinischen Überversorgung hierzulande eine Rolle. Auch die Unsicherheit des behandelnden Arztes trägt laut Fölsch maßgeblich dazu bei. „Verzichtet der Arzt auf eine Untersuchung, die möglicherweise erforderlich ist, zieht das nicht selten juristische Konsequenzen nach sich“, so Fölsch. Mit oft überflüssigen bildgebenden Verfahren wägten sich viele Ärzte auf der sicheren Seite. Aber auch das Anspruchsdenken der Patienten habe sich gewandelt. Ein Paradebeispiel seien die Patienten-Erwartungen bei Erkältungskrankheiten: „Gerade hier möchten viele Patienten die Praxis mit einem Rezept für ein Antibiotikum verlassen, obwohl das bei viralen Infekten gar nicht wirkt“, so Fölsch.
Die US-Amerikaner haben das Problem schon früher erkannt und bereits vor vier Jahren die Initiative „Choosing Wisely“ ins Leben gerufen. Mit mehr als 60 medizinischen Fachgesellschaften hat die US-amerikanische Organisation Kataloge aufgestellt, in denen auf Basis der Leitlinien überflüssige Behandlungen und Diagnostikverfahren aufgelistet wurden, mit deren Verzicht sich ordentlich Geld sparen lässt. „Ein anschauliches Beispiel für eine Überbehandlung bzw. Überdiagnostik ist die Bildgebung bei Rückenschmerzen, wenn diese kürzer als sechs Wochen anhalten“, veranschaulichte Fölsch. Die Pädiater würden gerne auf CTs bei nur leicht gestürzten Kindern verzichten, die Neurologen auf EEGs bei Kopfschmerzen.
Die DGIM sieht sich als Dachverband der deutschen medizinischen Fachgesellschaften, die das „Choosing Wisely“-Konzept auch in Deutschland unter dem Titel „Gemeinsam klug entscheiden“ etablieren will. Dazu hat sie die Fachgesellschaften bereits postalisch über die Initiative informiert und um ihre Mithilfe gebeten. Nach dem amerikanischen Vorbild soll nun jede Fachgesellschaft anhand der bestehenden Leitlinien festhalten, unter welchen Umständen es zu einer Über- oder auch Unterversorgung der Patienten kommt. Auch die Patienten sollen in Zukunft verstärkt miteinbezogen werden. „Wir müssen Therapie- und Diagnostikpläne in Zukunft besser erklären, damit der Patient versteht, warum manche Dinge erforderlich und andere überflüssig sind“, so Fölsch. Doch dazu fehle bisher schlichtweg die Zeit der behandelnden Ärzte. „Wir sind uns sicher, dass durch ein sorgfältiges Gespräch viele diagnostischen Maßnahmen wegfallen können“, erläuterte der Generalsekretär. Wenn jedoch auf diagnostische und therapeutische Maßnahmen aus medizinischer und finanzieller Sicht verzichtet wird, dürfe sich die Behandlungsqualität dabei „nicht im geringsten verringern“, so Fölsch.
Warum sind die geplanten Listen nach amerikanischem Vorbild überhaupt notwendig? Sind sinnvolle therapeutische und diagnostische Maßnahmen nicht bereits in den Versorgungsleitlinien zu finden? „Grundsätzlich schon. Doch oft sind die Leitlinien so umfangreich, dass sie für den Praxisalltag schlichtweg zu viele Informationen enthalten“, so Fölsch. Ein einfaches Umschreiben und Vereinfachen der Leitlinien sei jedoch keine Lösung des Problems. Die DGIM will stattdessen lieber alle „Player im Gesundheitssystem“ ins Boot holen: Neben den Fachgesellschaften, Krankenkassen, Versicherungen, Krankenhausträgern auch die Medien und Patientenorganisationen. „Wir sitzen alle im selben Boot. Daher nützt es nichts, nach Schuldigen zu suchen. Vielmehr wollen wir doch alle eine hohe Versorgungsqualität erhalten“, so Fölsch. Dazu plant die DGIM Großes: Über Flyer sollen Mediziner und Ärzte besser über Über- und Unterversorgung informiert werden. Auf speziellen Veranstaltungen und im Zuge von Ärztefortbildungen soll künftig auf die laufenden Entwicklungen im Projekt „Gemeinsam klug entscheiden“ hingewiesen werden. Die Gesellschaft wird auch den Dialog mit Politikern und Versicherern suchen. Denn für Änderungen der finanziellen Anreizsysteme für Ärzte sei vor allem eine breite öffentliche Meinungsbildung nötig, so Prof. Dr. Britta Siegmund von der Charité Berlin. „Die Tugend des Arzt-Seins soll wieder in den Vordergrund rücken“, ergänzte Prof. Dr. Michael Hallek, Vorsitzender der DGIM. „Unser Wunschdenken ist es, dass das ausführliche Arzt-Patienten-Gespräch derart honoriert wird, dass überflüssige Behandlungen wegfallen können“, sagte Fölsch.
Lohnt sich der Aufwand in Deutschland oder reicht es nicht einfach, bei in den Listen der Mediziner jenseits des Atlantiks abzugucken? „Das geht leider nicht“, so Fölsch. Die Leitlinien hierzulande und in den USA seien zu unterschiedlich, als dass man die „Choosing Wisely-Listen“ eins zu eins übertragen könnte. „Es wird Überschneidungen geben, aber wir müssen uns selbst Gedanken machen.“ Auch das Deutsche Netzwerk für Evidenzbasierte Medizin macht sich für den Import von „Choosing Wisely“ nach Deutschland stark. „Sollte es hierbei Überschneidungen geben, werden wir natürlich zusammenarbeiten“, versicherte Fölsch.