Sie rufen nachts im Notdienst an, wollen Kondome in Übergröße bestellen – und bieten an, zum Ausmessen direkt persönlich vorbeizukommen. Apothekerinnen schlagen sich mit vielen solcher Kunden rum. Es interessiert nur keinen.
Vor kurzem hat Daniela Hänel, Vorsitzende der Freien Apothekerschaft und Inhaberin der Linda Apotheke in Zwickau, einen Leserbrief an die Deutsche Apotheker Zeitung (DAZ) verfasst. Sie prangert darin die schlecht vergüteten Notdienste der öffentlichen Apotheken in einigen Kammerbezirken an, die ein normales Familienleben durch mehrfache Dienste im Monat quasi unmöglich machen. Zudem berichtet sie über psychische Belastungen durch sexuelle Belästigung am Telefon – die immer häufiger werde.
Adressaten des Brandbriefs waren auch die ABDA, alle Apothekenkammern und -verbände, Gesundheitsminister Karl Lauterbach, die sächsischen Bundestagsabgeordneten und die sächsische Gesundheitsministerin. Die Reaktion darauf ist erstaunlich, denn zu den finanziellen Sorgen und den zeitlichen Problemen äußerten sich diverse Kammern, das sächsische Staatsministerium und auch ein paar Abgeordnete recht schnell. Das Problem der sexuellen Belästigung wird dagegen nicht einmal erwähnt, von keinem der Adressaten. In welchem Jahrhundert leben wir nochmal?
Die Antworten auf den Brief beinhalten laut Hänel Informationen zu Abständen zwischen den Apotheken, zur Honorierung und zu Nacht- und Notdienstfonds. Doch die psychische Belastung der betroffenen Frauen sowohl durch ständige Abwesenheit vom Familienleben als auch wegen sexueller Belästigung während des Nachtdienstes hat keiner der Angeschriebenen aufgegriffen. Sie seien nicht einmal erwähnt worden, es gebe keinen Hinweis darauf, was bis jetzt dazu veranlasst wurde. Hänel berichtet, dass sie inzwischen von vielen Kollegen angeschrieben wurde, die sie in dieser Sache durch eigene Erfahrung bestätigten. Es gab und gibt Belästigungen vor allem am Telefon, aber auch am Notdienstfenster. Das mach es noch schwerer, den Dienst angstfrei zu bestreiten. Im Gegensatz zu den Ärzten sind Apotheker alleine im Nacht- und Notdienst, da die Vergütungsstruktur es schlichtweg nicht hergibt, in solchen Situationen zu zweit zu sein.
Forscht man ein wenig im Netz, findet man viele Geschichten dazu. Von Männern, die anrufen, angeblich Kondome in Übergrößen benötigen und ihre Maße durchgeben wollen. Die dann auch das zweifelhafte Angebot machen, gleich vorbeizukommen, damit die Apothekerin sie direkt ausmessen kann. Auch Fragen, ob nun Viagra oder eine Penispumpe bessere sexuelle Erlebnisse bieten oder über Intimrasuren seien keine Seltenheit – ebenfalls mit genauer Beschreibung des Gebiets, das rasiert werden soll. An einen ruhigen und angstfreien Dienst ist dann nicht mehr zu denken, wenn man bei jedem Klingeln an der Tür zusammenschreckt. Jederzeit könnte dieser Anrufer ja tatsächlich vor der Notdienstklappe warten. Nach einer solchen Nacht werden die angestellten Apothekerinnen den nächsten Dienst dankend ablehnen, der dann wieder am Inhaber hängen bleibt.
Wie könnte man solche Situationen lösen, wenn sie passieren, oder – noch besser – sie gar nicht erst entstehen lassen? Es ist einfach, zu sagen, dass der diensthabende Apotheker doch einfach auflegen kann, wenn er oder sie sich belästigt fühlt. Oder dass man einfach niemanden in die Apothekenräumlichkeiten reinlassen soll, wenn man alleine arbeitet. Eine Milchpumpe lässt sich allerdings nicht mal eben durch die Notdienstklappe reichen. Es gibt also definitiv Situationen, in denen man nicht um eine Öffnung der Tür herumkommt.
Sicher – das Qualitätsmanagementsystem jeder Apotheke verlangt es, auch einen Prozess zum Thema Überfall in der Apotheke zu etablieren, an dem sich jeder Mitarbeiter im Falle eines Falles orientieren kann. Idealerweise ist man aber auch hier mindestens zu zweit, wobei der Mitarbeiter im Backoffice-Bereich die Polizei verständigt und sich um den traumatisierten Kollegen kümmert. Wie soll das Procedere aber gelöst werden, wenn der Notdienst alleine verrichtet wird und auch keine Zeit bleibt, einen Überfall zu verarbeiten, wenn der nächste Nachtdienst schon nach 10 Tagen wieder verrichtet werden soll?
Möglicherweise wäre eine professionelle Hotline für telefonische Belästigungen die Lösung, die solche Anrufer erst einmal filtert und tatsächliche Notfälle dann mit der diensthabenden Apotheke verbindet, die dem Anrufer am nächsten ist? Sicherlich ist es auch sinnvoll, Apotheker für solche Situationen zu schulen, damit sie genau wissen, wie sie damit umgehen können und sich nicht ausgeliefert fühlen. Hier wären Fortbildungen, die durch eine Zusammenarbeit der Kammern mit der Polizei zustande kommen könnten, eine denkbare Möglichkeit. Auch für bereits traumatisierte Apotheker bräuchte man eine Stelle, die sich mit diesem Thema auseinandersetzt und schnelle Hilfe anbietet.
Wer das alles bezahlen soll und wie solche Möglichkeiten geschaffen werden könnten, müsste sicherlich diskutiert werden. Doch darüber zu reden, wäre der Anfang, den Hänel durch ihren engagierten Brief jetzt gemacht hat. Es ist nun an der Zeit, darauf zu reagieren. Die DAZ hat nachgehakt und von einigen Kammern inzwischen eine Antwort erhalten. Obwohl einer DAZ-Umfrage zufolge 75 Prozent der Apotheker schon mindestens einmal einen solchen Anruf erhalten hatten (bei den Frauen sogar 84 Prozent), kommen die Kammern nicht über ein Bedauern und allgemein enthaltene Empfehlungen hinaus. Ursula Funke, Präsidentin der Apothekerkammer Hessen, gab den Rat, bei telefonischer Belästigung einfach aufzulegen und nicht emotional zu reagieren, damit der Anrufer das Interesse verliert. Die Kammern könnten „das Grundproblem weder lösen noch beseitigen“.
Ich finde, die psychische Gesundheit der diensttuenden Apotheker sollte es wert sein, über das Thema lösungsorientiert zu sprechen. Ein Totschweigen ist ein stilles Bekenntnis, dass man mit der Situation entweder überfordert ist und keine Lösungen hat, oder dass es schlicht egal ist. Ich hoffe, dass weder das eine, noch das andere hier zutrifft. In Sachsen treibt laut DAZ ein Serientäter sein Unwesen und zwar seit gut sechs Jahren. Er wird auch weiterhin Apotheker im Notdienst belästigen, wenn solcherlei Straftaten nicht ernst genommen werden.
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