Ein zehnjähriger Junge leidet an einer schnell wachsenden Schwellung am Rücken. Die Ärzte entscheiden sich für eine Biopsie zur Diagnose – mit schweren Folgen. Die kleine Verletzung verwandelt sich in Knochen. Was ist passiert?
Man stelle sich folgendes Szenario vor: Ein Kind im Alter von 10 Jahren wird von seinen Eltern dem Arzt mit einer schnell wachsenden Schwellung am Rücken vorgestellt. Sie ist rot und schmerzt. Eine Biopsie und Blutuntersuchung wären in der Regel für eine sichere Diagnose geeignet – in diesem Fall allerdings ein Fehler. Denn das Kind in diesem Szenario leidet an Fibrodysplasia Ossificans Progressiva (FOP); die kleine Verletzung verwandelt sich wenige Wochen später in Knochen.
Die FOP ist selten, sehr selten sogar: Die Prävalenz liegt bei etwa 1 : 1 Millionen; weltweit gibt es etwa 900 bestätigte Fälle. In Deutschland dürfte es also um die 80 Betroffenen geben. Kein Wunder also, dass Ärzte die Krankheit oft nicht kennen und auch nicht sofort erkennen. Einer Erhebung zufolge brauchen FOP-Patienten durchschnittlich 4 Jahre und 6 Ärzte, um ihre Diagnose zu erhalten.
Bei der genetisch bedingten Erkrankung können Muskeln, Ligamente und Sehnen ossifizieren. Die Verknöcherung erfolgt in unregelmäßigen Schüben, oder auch Flare-Ups genannt, die spontan oder nach Traumata überall am Körper auftreten können. Nach der zuerst auftretenden tumorartigen Schwellung kommt es innerhalb kurzer Zeit zur Verknöcherung, welche fortschreitend die Beweglichkeit der betroffenen Patienten einschränkt. „Es handelt sich um eine äußerst verheerende Krankheit. Die Patienten wachen auf, bekommen einen Schub und einige Wochen später sind die betroffenen Muskeln zu Knochen geworden“, erklärt Dr. Elisabeth M. Eekhoff vom VU University Medical Center Amsterdam (VUmc) im Interview mit der DocCheck News Redaktion. Das VUmc ist eines der führenden FOP-Expertenzentren in Europa.
Laut Angaben von FOP Deutschland findet die stärkste Verknöcherungsaktivität während des großen Wachstumsschubes vor bzw. in der Pubertät statt. Zum Ende der Pubertät sind häufig bereits alle rumpfnahen großen Gelenke von der Verknöcherung betroffen. Auch ist zu beachten, dass Verknöcherungen in der Nähe der Wirbelsäule oft zu starken Verkrümmungen führen können.
Neben der chronisch fortschreitenden heterotopen Ossifizierung (HO) weist die Krankheit noch ein weiteres charakteristisches Symptom auf: In >95 % der Fälle sind die Großzehen verkrümmt und verkürzt. Diese Fehlbildung liegt von Geburt an vor und erlaubt eigentlich schon vor Beginn des fehlgeleiteten Knochenwachstums eine frühe Verdachtsdiagnose. Eekhoff weist aber darauf hin: „Wenn man das nicht weiß und wenn man nicht gezielt danach schaut, dann denkt man da einfach nicht dran.“
Ganz sicher lässt sich die Diagnose durch eine genetische Untersuchung feststellen. Ursächlich für die Krankheit ist eine Punktmutation im Gen des ACVR1-Rezeptors. Dabei handelt es sich um einen BMP1-Rezeptor, der durch die Mutation überaktiviert wird.
Ist der Knochen einmal da, lässt er sich nicht mehr entfernen – eine OP würde nur zu weiteren Verknöcherungen führen. Es gibt auch kein von FDA oder EMA zugelassenes Medikament, um die HO zu unterbinden. Umso wichtiger ist es daher, Flare-Ups so gut wie möglich zu vermeiden – dazu müssen Arzt und Patient allerdings erst einmal wissen, dass die Krankheit vorliegt. Oft werden die Patienten zuerst falsch diagnostiziert. Falsche und unbedachte Behandlungsversuche können leicht zu einer Verschlimmerung der Krankheit führen.
„Es gibt eine Menge Fälle, in denen Personen denken, es wäre Krebs. Es ist sogar schon passiert, dass einem Patienten ein Arm amputiert wurde, weil die Ärzte dachten, [die Schwellung] wäre ein Tumor.“ In westlichen Ländern wäre die Situation zwar besser und durch mehr Awareness verändere sich die Lage, aber in anderen Ländern sei die Krankheit nach wie vor schlecht diagnostiziert und verstanden. Andere häufige Fehldiagnosen sind der IFOPA zufolge die aggressive juvenile Fibromatose und Fibröse Dysplasie. Auf die Frage, worauf Ärzte achten sollten, betont Eekhoff: „Schaut auf den großen Zeh!“ Dieser sei ein bedeutender Hinweis, durch die sich die Krankheit von den möglichen Differentialdiagnosen abgrenzt.
Wie geht ein Arzt also damit um, wenn ihm ein Patient mit dieser seltenen Krankheit unterkommt? Der allerwichtigste Punkt: Vermeidung jeglicher Traumata und Infektionen. „Jedes Trauma in den Muskelligamenten kann zu heterotoper Ossifizierung führen“, betont Eekhoff. Das umfasst schon kleine Standardbehandlungen wie Impfungen. Diese sollten nur subkutan verabreicht werden, nicht intramuskulär. Blutabnehmen und intravenöse Zugänge sind zwar möglich, müssen allerdings so sanft und minimal-invasiv wie möglich durchgeführt werden.
Außer in ansonsten lebensbedrohlichen Situationen sollten invasive Operationen unbedingt vermieden werden. Für solche schwierigen Verfahren wird die Überweisung in ein FOP-Expertenzentrum empfohlen. Neben der offensichtlichen Gefahr durch den Eingriff selbst muss auch bei der Anästhesie Vorsicht gewahrt werden: Bei kleinen Verletzungen oder Reizungen durch die Intubation entsteht das Risiko von Verknöcherungsschüben im Hals, die die Atmung behindern können. Einschränkungen der Kieferbeweglichkeit erschweren die Intubation zusätzlich. Die Leitlinie der IFOPA empfiehlt die Anästhesie daher nur im Wachzustand durch einen Experten, der mit FOP-Patienten bereits vertraut ist.
Auch Zahnärzte müssen an dieser Stelle besonders aufpassen: Kieferüberdehnungen und Betäubungen des Nervus alveolaris inferior sind dringend zu vermeiden, da sie eine dauerhafte Kiefersperre zur Folge haben können.
Eekhoff warnt auch davor, dass die körperlichen Fähigkeiten der Patienten leicht überschätzt werden: „Die Patienten sind oft gut gebildet und können gut sprechen. Dann denken die Leute, dass sie auch eine ganze Menge anderes normal tun können. Aber wegen der Verknöcherung können sie nicht einmal mit dem Finger ihre Nase berühren.“
Zum Glück sind Ärzte jeder Fachrichtung bei der Behandlung nicht auf sich allein gestellt: Es gibt Expertenzentren, die bei der Behandlung helfen. „Tauschen Sie sich so früh wie möglich mit einem Expertenzentrum aus, was zu machen ist, denn wir sind immer bereit, zu beraten“, empfiehlt Eekhoff deutlich. Patientenorganisationen wie FOP Deutschland helfen bei der Vermittlung medizinischer Notfallkontakte.
Jeder Eingriff müsse mit einem Expertenzentrum abgesprochen werden. Eekhoff empfehle sogar, die Patienten sofern möglich direkt an ein Zentrum zu verweisen, um den Eingriff dort vornehmen zu lassen. Auch zur Überwachung der allgemeinen Krankheitsaktivität sind Expertenzentren wie das VUmc Amsterdam die richtigen Anlaufstellen. Patienten werden dort jährlich vorgestellt und die wichtigsten Organfunktionen überprüft. Auch die Möglichkeit einer Studienteilnahme kann diskutiert werden. In Deutschland ist eines der wichtigsten Expertenzentren das Klinikum Garmisch-Partenkirchen, welches eng mit dem niederländischen Zentrum zusammenarbeitet.
Natürlich stellt Reisen für die stark eingeschränkten Patienten ein Hindernis dar, sodass man argumentieren könnte, dass es für die Patienten besser wäre, wohnortsnah betreut werden zu können. Eekhoff gibt jedoch zu bedenken: „Es ist eine besondere Krankheit. Man muss sich viel Zeit nehmen, denn übermäßiger Stress ist nicht gut für die Patienten – er kann die Krankheit auch aktivieren.“ In einem spezialisierten Zentrum sei dies möglich, und sie empfehle daher stark die Behandlung in einem Zentrum. „Aber wir arbeiten immer mit den Ärzten vor Ort zusammen; wir müssen da kollaborieren. Das ist für eine gute Patientenversorgung von großer Bedeutung.“
Ein besonderer Vorteil des niederländischen Zentrums: Ein spezielles Bildgebungssystem, das [18F]NaF-PET-CT, erlaubt eine Einschätzung der Krankheitsaktivität. „Es zeigt tatsächlich frühzeitige Aktivitäten der Knochenbildung und dann weiß man, ob ein Flare-Up zu Knochen werden wird oder nicht.“ In einem normalen CT seien die Veränderungen so früh noch nicht zu sehen. Ihr Team fand das 2017 heraus; weit verbreitet ist die Technik aber noch nicht. Besonders im Rahmen von klinischen Studien für neue Medikamente gegen FOP ist das PET-CT als Monitoring für das Knochenwachstum von höchster Bedeutung.
Zwar gibt es keine ursächliche Behandlung, aber behandelnde Ärzte haben trotzdem Möglichkeiten, den Betroffenen zu helfen. Die von internationalen FOP-Experten entworfene Leitlinie der IFOPA enthält hilfreiche Anweisungen zum Symptommanagement. So können bei Schüben in vielen Fällen Nicht-steroidale Antirheumatika von Nutzen sein, sowie Kortikosteroide zur Schub-Prophylaxe nach signifikanten Muskeltraumata oder vor chirurgischen Eingriffen und Zahnbehandlungen.
Außerdem kann der Arzt bei der Vermeidung von Atemwegserkrankungen unterstützen. Durch Verknöcherungen des Brustkorbes sei die pulmonale Funktion eingeschränkt, erklärt Eekhoff. Daher seien Patienten mit FOP besonders durch Lungenerkrankungen gefährdet. Bei einer Lungenentzündung sei daher eine frühe Antibiotikagabe angebracht. Wichtig sei auch, dass persönliche Umfeld gegen Grippe zu impfen, um das Risiko einer Übertragung zu vermindern.
Eekhoff betont mehrfach: „Es ist eine wirklich schreckliche Krankheit, die andauert.“ Kein Wunder also, dass viele Forscher und pharmazeutische Unternehmen auf der Suche nach einer Heilungsmöglichkeit sind. Es hilft, dass mit der Mutation im ACVR-Rezeptor die genetische Ursache bekannt ist, und so ein erster Ansatzpunkt gegeben ist. Zurzeit werden in Europa drei mögliche Wirkstoffkandidaten in klinischen Studien untersucht, die darauf abzielen, die Signaltransduktionswege um den Rezeptor einzudämmen und so die Neubildung von Knochen zu verhindern.
„Der Unterschied zwischen all diesen Studien besteht darin, dass einige Medikamente völlig neu sind und einige Medikamente zuvor ausgiebig erforscht wurden, aber nicht auf den Markt kamen, weil sie bei [der ursprünglich angedachten Indikation] nicht gut funktionierten – aber dann fanden wir heraus, dass sie bei FOP funktionieren könnten.“ So wird der src-Kinase-Inhibitor Saracatinib zurzeit in einer Phase-2-Studie erprobt.
Auch die bisher am weitesten fortgeschrittene Studie befasst sich mit einem bereits bekannten Wirkstoff: Palovarotene. Der RAR-gamma-Agonist wurde in einer Phase-3-Studie untersucht und wird zurzeit noch hinsichtlich seiner Effektivität reevaluiert. In ersten Phase-2-Studien konnten teilweise Verbesserungen bei der heterotopen Knochenbildung beobachtet werden; allerdings wurde auch beobachtet, dass das Medikament das allgemeine Körperwachstum einschränkt, ein Einsatz bei Kindern unter 14 Jahren ist daher schwierig.
Beim dritten Hoffnungsträger, REGN2477 handelt es sich um einen Antikörper gegen Aktivin-A. Aktivin-A führe zwar normalerweise nicht zur Knochenbildung, erklärt Eekhoff. Studien konnten aber zeigen, dass Activin-A den mutierten Rezeptor aktiviert und eine Inhibierung des Hormons das Wachstum von HO-Läsionen supprimieren kann. Nun müsse in klinischen Studien untersucht werden, ob der Wirkstoff auch sicher ist.
Eekhoff glaubt aber, dass es trotz der laufenden Studien noch ein paar Jahre dauern wird, bis ein Medikament gegen FOP die Marktreife erlangt. „Die Krankheit ist schwieriger, als wir dachten. Es ist also nicht so einfach, ein Medikament zu finden, das sicher wirkt und absolut effektiv ist.“ Vermutlich sei auch eine Kombination von Medikamenten der Schlüssel. Das Problem sei, dass die Krankheit unvorhersehbar wirkt: „Wir kennen die Mutation, aber […] man weiß nie, wann sie aktiv wird. Natürlich durch ein Trauma, aber eben auch spontan.“ Auch führe nicht jeder Krankheitsschub zwingend zur neuen Knochenbildung, und nicht jedes Trauma zu einem Schub.
Dennoch hat Eekhoff Hoffnung: „Die Dinge sind in Bewegung“. Es sei wichtig, dass weiterhin viel geforscht und kollaboriert werde. Durch die körperliche Einschränkung würden den Patienten viele Türen verschlossen. „Seien Sie sich bewusst, dass es wirklich nette Menschen sind, ganz normale Menschen, denen das einfach passiert.“
Bildquelle: Phil Hearing, unsplash