Habt ihr alle Medikamente im Blick, die eure älteren Patienten einnehmen und kennt ihr jede Wechselwirkung? Die Antwort ist vermutlich: Nein. Lest hier, wie ihr eine Polymedikation reduzieren könnt.
Jedes Jahr sterben zehntausende Patienten an Arzneimittelinteraktionen, valide Daten existieren dazu nicht. Gerade der Hausarzt ist gefordert, bei betagten Patienten mit Polymedikation Wechselwirkungen zu vermeiden. Programme wie PRISCUS, FORTA u.a. sollen hier eine Hilfestellung geben. Aber, bringen die wirklich was?
Auf dem Weg des Arzneimittels durch den Körper ergeben sich zahlreiche Möglichkeiten der Arzneimittelwechselwirkung. Bei der Resorption, der Verteilung, der Umwandlung, der Ausscheidung und bei der Wirkung können Arzneistoffe durch andere Reaktionspartner beeinflusst werden. Mit Hilfe einer einfachen Formel lässt sich die Anzahl der maximal zu erwartenden Interaktionen berechnen:
I steht dabei für die Anzahl möglicher Interaktionen, n für die Anzahl der eingenommenen Medikamente. Bei sechs verschiedenen Medikamenten kann es bis zu 15 mögliche Interaktionen geben: (6x6-6)/2 = 15. Bei 10 Medikamenten kann es demnach bis zu 45 Interaktionen geben!
In einer Studie von Hoffmann et. al nahmen etwa 70 % der Heimbewohner 5 oder mehr Wirkstoffe pro Tag ein, und betreiben damit Polypharmazie.
Aktuell sind 21,4 % der Bevölkerung in Deutschland 65 Jahre alt oder älter. Bei 45 % der Menschen dieser Altersgruppe besteht eine Polypharmazie. Geschätzt 10–50 % dieser Patienten erhalten potenziell inadäquate Medikation (PIM), das heißt Arzneimittel, die ein ungünstiges Nutzen-Risiko-Verhältnis haben und für die es sicherere Alternativen gibt. PIM-Verordnungen sind assoziiert mit unerwünschten Ereignissen wie Stürzen, kognitiver Einschränkung oder vermehrten Krankenhausaufnahmen.
Ein Forscherteam um Katharine Wallis vom Institut für Allgemeinmedizin der Universität Auckland, Neuseeland, befragte 24 Hausärzte, ob sie ihre Therapiepläne regelmäßig überprüfen und auch Medikamente absetzen würden.
Die befragten Ärzte sahen ein, dass ein Absetzen von Medikamenten durchaus sinnvoll und notwendig sein kann, gaben aber auch an, dass dies eine große Hürde ist. Zu groß ist die Angst, den Patienten unterzuversorgen und ein „schlechter Arzt“ zu sein. Bemängelt wurde auch, dass die Leitlinien ein Absetzen einer Medikation in den meisten Fällen gar nicht vorsehen. Die Ärzte gaben an, dass eine große Unsicherheit in der Versorgung multimorbider Patienten bestünde, was beim Mediziner Ängste auslöse. Diese führten dazu, lieber mehr als weniger Medikamente zu verordnen.
Das Verbundprojekt PRISCUS (lat. altehrwürdig) hat zum Ziel, ein Modell gesundheitlicher Versorgung von älteren Menschen mit mehrfachen Erkrankungen zu entwickeln. Am Lehrstuhl für Klinische Pharmakologie der Uni Witten-Herdecke wurde in der ersten Förderphase zunächst die PRISCUS-Liste erstellt.
Einen anderen Weg geht die FORTA-Liste. Die FORTA-Liste (Fit fOR The Aged) ist die erste Positiv-Negativ-Bewertung von Arzneimitteln zur Behandlung älterer Patienten. Diese Liste gibt nicht nur die für ältere Patienten untauglichen Arzneimittel wie in einer reinen Negativliste an, sondern benennt auch die nachweislich nützlichen Arzneimittel und ist somit auch eine Positivliste.
Kategorie A
Das Arzneimittel wurde schon an älteren Patienten in größeren Studien geprüft, die Nutzenbewertung fällt eindeutig positiv aus.
Kategorie B
Die Wirksamkeit ist bei älteren Patienten nachgewiesen, aber es gibt Einschränkungen bezüglich der Sicherheit und Wirksamkeit.
Kategorie C
Es liegt eine ungünstige Nutzen-Risiko-Relation für ältere Patienten vor. Die genaue Beobachtung von Wirkungen und Nebenwirkungen ist erforderlich. Wenn mehr als 3 Arzneimittel gleichzeitig eingenommen werden, wird empfohlen, diese Arzneimittel als erste wegzulassen. Der Arzt sollte nach Alternativen suchen.
Kategorie D
Diese Arzneimittel sollten fast immer vermieden werden. Der Arzt sollte Alternativen finden. Die meisten Substanzen aus dieser Gruppe sind meistens auch auf Negativlisten wie der PRISCUS-Liste zu finden.
Zur kritischen Gruppe D gehören beispielsweise Atenolol, Clonidin, Verapamil, Amiodaron, Theophyllin, systemische Kortikoide, Codein, Rosiglitazon, SNRI, Clozapin, Haloperidol u.a.
Als PIM werden wie oben beschrieben solche Arzneimittel bezeichnet, die bei älteren Menschen ein ungünstiges Nutzen-Risiko-Verhältnis haben und für die es sicherere Alternativen gibt. In der RIME-Studie (Reduction of potentially Inappropriate Medication in the Elderly) wurde untersucht, ob eine spezielle Schulung und die PRISCUS-Liste zu einer Reduktion von PIM und unerwünschten Arzneimittelinteraktionen bei älteren Patienten in hausärztlichen Praxen führen.
137 Hausarztpraxen wurden dafür randomisiert in eine Interventionsgruppe und eine Kontrollgruppe unterteilt. Die Interventionsgruppe wurde nochmals aufgeteilt und bestand zu gleichen Teilen aus einer Schulung der Hausärzte allein, beziehungsweise des gesamten Praxisteams. Die Kontrollgruppe erhielt lediglich eine allgemeine Arzneimittelschulung. Primärer Endpunkt war der Anteil der Patienten mit mindestens einer PIM oder Interaktion pro Praxis. Die effektivere Reduktion dieses Endpunkts in der Interventionsgruppe nach einem Jahr bildete die primäre Hypothese.
Von 1.138 Patienten mit regelmäßiger Einnahme von mehr als fünf Wirkstoffen hatten zu Beginn 39,8 % mindestens eine Interaktion mit einer PIM-Verordnung. Der Anteil betrug in der Interventionsgruppe zu Beginn 43,0 % und nach einem Jahr 41,3 %, in der Kontrollgruppe 37,0 % und 37,6 %. Der geschätzte Interventionseffekt zwischen Interventionsgruppe und Kontrollgruppe lag bei 2,3 % (p = 0,36), zwischen Teamschulung und Arztschulung bei 4,3 %. Das ernüchternde Ergebnis war, dass weder eine Schulung des Arztes noch des gesamten Teams den Anteil von PIM-Verordnungen oder von Interaktionen bedeutsam senken konnte.
Hausärzte der Praxisnetzwerke der Universität Witten/Herdecke und der Medizinischen Hochschule Hannover rekrutierten Patienten im Alter von mindestens 70 Jahren, die während der letzten drei Monate sechs oder mehr Arzneimittelwirkstoffe für die regelmäßige und langfristige Einnahme erhalten hatten.
Besonders häufig kam es zu folgenden unerwünschten Kombinationen und somit Interaktionen:
Von einer internationalen Expertenrunde wurden zahlreiche zu vermeidende Interaktionen zusammengestellt, zum Beispiel die Kombination von oralen Antikoagulanzien oder Thrombozytenaggregationshemmern mit nichtsteroidalen Antirheumatika oder die gemeinsame Einnahme von Renin-Angiotensin-Aldosteron-System(RAAS)-Blockern, NSAR und Diuretika mit dem Risiko einer Niereninsuffizienz.
Eine Metaanalyse von Grey et al. von randomisierten kontrollierten Studien zur Reduktion von PIM-Verordnungen zeigte hingegen eine Minderung unerwünschter Arzneimittelwirkungen (UAW) um 21 %.
Diese Überprüfung zeigt, dass eine Vielzahl von Interventionen das Risiko von UAWs erfolgreich reduziert haben. Die meisten Studien nutzten eine Apotheker-geführte Intervention, und bei diesen Studien wurde sogar eine 35-prozentige Verringerung der Wahrscheinlichkeit von UAWs gefunden. „Wir kommen zu dem Schluss, dass Interventionen zur Optimierung des Medikamentengebrauchs das Risiko jeglicher und schwerwiegender UAW bei älteren Erwachsenen verringert“, so die Autoren. Eine erfolgreiche Implementierung dieser Interventionen in Gesundheitssystemen kann die Arzneimittelsicherheit bei älteren Patienten verbessern.
Im Vergleich zeigen Studien, die in Bezug auf die Verbesserung der Medikation wirksam waren, vor allem Unterschiede in der Intensität der Intervention. Die DQIP-Studie fokussierte sich beispielsweise auf das Risiko der gleichzeitigen Verordnung von NSAR und Thrombozytenaggregationshemmern. Die Intervention war aufwändig, sie umfasste ärztliche Fortbildung, patientenspezifische Warnsignale zur Verschreibung durch die Praxis-EDV und Monitoring zur Häufigkeit der gleichzeitigen Verordnung mit Rückmeldung an den verschreibenden Arzt.
Es gab drei Komponenten:
Im Interventionszeitraum erhielten 2.905 Patienten mit Risikofaktoren mindestens eine Hochrisikoverordnung. Ungefähr die Hälfte aller Patienten, die während des 48-wöchigen Interventionszeitraums überprüft werden mussten, wurden beim ersten Einloggen zur Überprüfung gekennzeichnet.
Diese komplexe Intervention, die professionelle Ausbildung, Informatik zur Identifizierung von Hochrisikopatienten und finanzielle Anreize beinhaltete, konnte die Rate der risikoreichen Verschreibungen von NSAIDs und Thrombozytenaggregationshemmern signifikant reduzieren: Die Maßnahmenkombination reduzierte die gleichzeitige Verordnung von NSAR und Thrombozytenaggregationshemmern ohne Gastroprotektion von 1,5 % auf 0,6 %. Auch die Zahl der Krankenhausaufnahmen bei Risikopatienten konnte gesenkt werden.
Daher ist zum Abschluss also die Frage angebracht: Woran liegt es, dass sich trotz valider, übersichtlicher und kostenfreier Programme die Zahl der PIM-Verordnungen und/oder Arzneimittelinteraktionen im Alltag nicht senken lässt? Ist es der Zeitmangel? Sind es fehlende finanzielle Anreize? Softwareprobleme?
Schreibt uns gerne eure Meinung in die Kommentare!
Bildquelle: Myriam Zilles, unsplash.