Was haben Insektengifte, Nahrungsmittel und Medikamente gemeinsam? Sie alle können einen anaphylaktischen Schock auslösen. Lest hier, bei welchen Medikamenten ihr besonders aufpassen müsst.
Anaphylaktische Reaktionen gehören zu den schwersten und potenziell lebensbedrohlichen Ereignissen. Einige der häufigsten Auslöser schwerer anaphylaktischer Reaktionen sind neben Insektengiften und Nahrungsmitteln eine ganze Reihe an Medikamenten.
Der Begriff Anaphylaxie leitet sich von den griechischen Wörtern ana = hinauf/über und phylaxis = Schutz ab. Das Phänomen der Anaphylaxie wurde im Jahre 1901 zum ersten Mal von den französischen Forschern Charles Richet und Paul Portier wissenschaftlich beobachtet. Sie versuchten, Hunde gegen Quallengifte zu immunisieren. Dabei kam es nach wiederholter Injektion statt zur erhofften Schutzwirkung zu einer tödlichen Anaphylaxie.
Die wesentlichen Änderungen zur Leitlinie von 2007 beinhalten nun eine Modifikation der Klassifikation der Schweregrade einer Anaphylaxie, wonach der Grad I nicht nur das Auftreten von Hauterscheinungen, sondern auch subjektive Allgemeinsymptome beinhaltet (früher Prodromi genannt).
Neu aufgeführt sind sogenannte Summationsfaktoren, bei denen es nur bei der Kombination verschiedener Faktoren zum Vollbild der Anaphylaxie kommt – beispielsweise Allergenexposition gemeinsam mit physischer Anstrengung (Exercise-Induced Anaphylaxis), psychischem Stress, Alkoholkonsum, akutem Infekt oder gleichzeitiger Exposition gegen andere Allergene oder Anwendung von Anaphylaxie-fördernden Medikamenten. Zu diesen gehören Beta-Blocker oder ACE-Hemmer.
Die Symptome anaphylaktischer Reaktionen werden durch die Freisetzung verschiedener Mediatorsubstanzen verursacht, deren wichtigste Histamin ist. Aber auch Eicosanoide, plättchenaktivierender Faktor, Tryptase, Zytokine und Chemokine spielen eine Rolle.
Die Leitlinie zeigt auch, wie bedeutsam Arzneimittel als Auslöser einer Anaphylaxie sind. Danach stehen bei Kindern Arzneimittel mit 7 % an dritter Stelle nach Nahrungsmitteln (60 %) und Insektengiften (22 %). Bei Erwachsenen stehen sie nach den Insektengiften (52 %) mit 22 Prozent auf Rang 2, gefolgt von Nahrungsmitteln (16 %).
Von 1999 bis 2019 wurden im FDA Adverse Event Reporting System (FAERS) 17.506.002 unerwünschte Arzneimittelereignisse gemeldet, von denen 47.496 als Anaphylaxie gemeldet wurden. Es gab 2.984 von 47.496 (6,28 %) Berichte über Anaphylaxie mit anschließendem Tod. Die 50 wichtigsten Medikamente, die mit einem Bericht über Anaphylaxie an die FDA in Verbindung gebracht werden, werden in einer Arbeit von Yu et al. genannt.
Folgende Arzneimittel waren demnach häufige Auslöser anaphylaktischer Reaktionen:
An der Spitze der Medikamente von FEARS, das sich auf die Situation in den USA bezieht, steht Omalizumab (2.079 gemeldete Anaphylaxien), gefolgt vom Narkotikum Propofol (1.613 Fälle) und dem chimären monoklonalen Tumor-Nekrose-Faktor α-Antikörper Infliximab (1.559 Fälle).
Zusammengenommen führen das Antibiotikum Amoxicillin und Amoxicillin/Clavulansäure die Liste mit 2.096 Fällen an. Beim Blick auf die Wirkstoffklassen im Zusammenhang mit einer Anaphylaxie liegen Antibiotika mit einem Anteil von 14,87 % auf einem Spitzenplatz.
An zweiter Stelle folgen monoklonale Antikörper, die bei 13,06 % der Fälle der Auslöser sind. Auf den weiteren Plätzen sind nichtsteroidale Antirheumatika (NSAIDs), Paracetamol (8,83 %) und intraoperative Medikamente (8,59 %), wie etwa Propofol, Rocuronium oder Fentanyl, zu finden.
In Deutschland steht das Antibiotikum Cefuroxim mit 109 Meldungen an erster Stelle, gefolgt von Infliximab (65 Fälle) und humanen IgG-Antikörpern (56 Fälle). Neben den USA gingen vor allem aus 5 weiteren Ländern Meldungen in die Datenbank ein. Auch in Kanada und Deutschland machten monoklonale Antikörper einen großen Teil der Anaphylaxien aus. Dagegen kamen intraoperative Medikamente in beiden Ländern nicht in den Top 10 vor.
Bei insgesamt 6 Medikamenten endeten mehr als 20 % der anaphylaktischen Reaktionen tödlich, am häufigsten war dies beim Kontrastmittel Iopamidolder der Fall (29,17 %). 4 von ihnen zählten jedoch nicht zu den Top 50 der Medikamente, die am häufigsten eine Anaphylaxie auslösen.
Die Wirkstoffklasse mit den meisten Todesfällen nach einer Anaphylaxie waren Antibiotika, welche für 20,84 % der Verstorbenen verantwortlich waren. An zweiter Stelle rangierten Kontrastmittel mit 12,13 %, danach folgten intraoperative Medikamente (11,86 %). Monoklonale Antikörper machten nur einen geringen Anteil aus (5,7 %), dieser stieg in den vergangenen Jahren jedoch stetig an.
Wirkstoffklassen mit den meisten Todesfällen:
Acetylsalicylsäure (ASS) und andere nichtsteroidale Antirheumatika sind weit verbreitete Arzneimittel, die bei einem erheblichen Teil der Patienten Überempfindlichkeitsreaktionen hervorrufen können. NSRA wie Diclofenac und ASS stehen an sechster Stelle der Liste mit tödlichen Anaphylaxien. Häufig wird Paracetamol als Alternative empfohlen.
ASS-Empfindlichkeit äußert sich am häufigsten als Atemwegsreaktion, wie Bronchospasmus, starke Rhinorrhö, Bindehautinjektion oder aber Urtikaria und Angioödem. Es wird angenommen, dass der primäre Mechanismus die Hemmung des Enzyms Cyclooxygenase-1 (COX-1) ist. Daher zeigen Patienten mit ASS-Empfindlichkeit häufig Kreuzreaktionen auf nichtselektive NSAIDs, die das COX-1-Enzym hemmen.
Ziel einer Studie von Sunwoo et al. war es, die klinischen Merkmale und Raten der Verträglichkeit von Cyclooxygenase-2-Inhibitoren und Paracetamol bei Patienten zu analysieren, die aufgrund einer mehrfach kreuzreaktiven Art von NSAIS-Überempfindlichkeit in die Klinik aufgenommen wurden.
Bei der Erstaufnahme ins Krankenhaus konnten 56,2 % Paracetamol sicher anwenden, 3,8 % mieden das Medikament aufgrund früherer Überempfindlichkeitsreaktionen. Die restlichen Patienten (40 %) unterzogen sich einer oralen Therapie mit Paracetamol. 1,9 % reagierten in Form von Urtikarialäsionen. Insgesamt hatten sechs von 105 Patienten eine Kreuzreaktion auf Paracetamol.
Kreuzreaktive Arten von Überempfindlichkeit gegen NSARs werden durch nichtallergische Mechanismen über die Hemmung von COX-1 und die nachfolgende Veränderung der Eicosanoid-Biosynthese, insbesondere der Überproduktion von Cysteinyl-Leukotrien, ausgelöst. Generell sind Patienten mit ASS-Intoleranz auch empfindlich gegenüber allen NSARs, die bevorzugt COX-1 hemmen. Paracetamol, ein schwacher COX-Hemmer, und nichtselektive COX-2-Hemmer (Meloxicam, Nimesulid) galten lange Zeit als relativ sichere therapeutische Alternativen für Patienten mit Aspirin-Intoleranz.
In der Studie wurde belegt, dass Paracetamol, Meloxicam und Nimesulid bei 5,7 %, 6,7 % bzw. 9,7 % der Patienten mit NSAID-Überempfindlichkeit ebenfalls Nebenwirkungen hervorriefen.
Viele der zu anaphylaktischen Reaktionen neigende Arzneimittel unterliegen der Rezeptpflicht. Doch auch rezeptfreie Arzneimittel, wie das Rachendesinfizienz Chlorhexidin, können Auslöser sein. In den USA fallen Mundspülungen mit Chlorhexidin deswegen unter die Verschreibungspflicht. „Anaphylaktische Reaktionen – sehr selten, aber dann lebensgefährlich“, warnt die FDA.
Die Zahl der Meldungen ist laut eines Berichts in den letzten Jahren gestiegen. Alle 43 gemeldeten Zwischenfälle wurden als bedrohlich eingestuft, bei 26 Patienten bestand akute Lebensgefahr. Zwölf Patienten wurden hospitalisiert, zwei Todesfälle wurden der anaphylaktischen Reaktion zugeordnet. Bei 39 der 43 Betroffenen kam es zu einem Blutdruckabfall. Bei zwölf Patienten wurden erhöhte Histamin- oder Tryptase-Konzentrationen gefunden.
Die FDA rät Ärzten und Apothekern, Patienten generell zu fragen, ob sie jemals eine allergische Reaktion durch Chlorhexidingluconat hatten. Leiden Patienten an einer Überempfindlichkeit, gibt es je nach Einsatzbereich unterschiedliche Alternativen. Dazu gehören Povidon-Iod, Alkohole, Benzalkoniumchlorid, Benzethoniumchlorid oder Parachlorometaxylenol.
Das Bundesinstitut für Arzneimittel hat bereits vor zehn Jahren vor dem Gurgelmittel gewarnt. Ende 2013 lagen der Behörde 147 Berichte aus Deutschland über anaphylaktische Reaktionen im Zusammenhang mit der Anwendung von Chlorhexidin vor. Neuere Zahlen gibt es in Deutschland nicht.
Aus Gründen der Aktualität tauschen Impfstoffvaccine gegen COVID-19 nicht in den FDA-Statistiken auf. Eine Metaanalyse von Sobczak et al. untersuchte das Risiko anyphylaktischer Reaktionen nach einer COVID-19-Impfung. Unter den Impfstoffen wies Ad26.COV2.S (Johnson & Johnson) das höchste Risiko einer Anaphylaxie auf. Andere Virusvektor-Impfstoffe hatten ebenfalls ein höheres Risiko einer Anaphylaxie als mRNA-Impfstoffe. Unter den mRNA-Impfstoffen trat das höhere Risiko für Anaphylaxie nach Verabreichung des BNT162b2-Impfstoffs (Biontech) auf.
Das Geschlecht spielt bei der Anaphylaxie eine wichtige Rolle, so die Metaanalyse. Frauen haben eine größere Prädisposition für Arzneimittelallergien. Dieser Zusammenhang wurde jedoch bei Kindern nicht beobachtet. Dies kann durch Sexualhormone erklärt werden. Östrogen kann die Aktivität der endothelialen Stickoxid-Synthase verstärken. Dies führte zu einer Erhöhung der Gefäßpermeabilität sowie der Schwere der Anaphylaxie.
Für Anaphylaxiereaktionen nach Verabreichung des COVID-19-Impfstoffs können auch Hilfsstoffe verantwortlich sein. Polyethylenglykol (PEG2000), das in mRNA-Impfstoffen BNT162b2 und mRNA-1273 (Moderna) enthalten ist, hat ein allergenes Potenzial. In Vektorimpfstoffen ist Polysorbat 80 enthalten.
Laut CDC-Empfehlungen zum Anaphylaxie-Management nach COVID-19-Impfstoffen sollte an den Impfstellen qualifiziertes medizinisches Personal zur Verfügung stehen, das die Symptome erkennen und Adrenalin verabreichen kann. Dies dürfte arztbesetzten Impfstellen einen neuen Stellenwert einräumen. In der wissenschaftlichen Literatur wurde kein Tod aufgrund einer Anaphylaxie von COVID-19-Impfstoffen bestätigt, also kein Argument für Impfgegner.
Bildquelle: freestocks, unsplash