Die Menschen in der besetzten Stadt Cherson sitzen fest. Apothekenregale sind leer, kaum ein Patient wird noch vernünftig versorgt. „Aus meinem engeren Bekanntenkreis konnte niemand fliehen“, berichtet uns ein ukrainischer Journalist.
Die südukrainische Großstadt Cherson steht seit den ersten Kriegstagen unter russischer Besatzung. Ihre Bewohner dort leben in völliger Isolation – und sitzen in der Region fest. Laut aktuellen Befürchtungen arbeitet Moskau daran, ein Pseudo-Referendum zu inszenieren, um aus der Region eine pro-russische Volksrepublik zu machen.
Wie lebt es sich in der besetzten Stadt? Kann die medizinische Versorgung aufrechterhalten werden? Der ukrainische Journalist Juriy befindet sich aktuell in Cherson und berichtet der DocCheck News Redaktion im Interview von der Lage vor Ort.
Wie haben Sie die letzten 14 Tage erlebt?
„Der Krieg brach unerwartet aus. Wir weigerten uns, zu glauben, dass der Krieg aus Moskau kam. Die Stadt, die wir einst ‚die Hauptstadt unserer Heimat‘ nannten. Auf den Webkameras, die am Kontrollpunkt zur Grenze der Krim und auf den Straßen installiert worden waren, beobachteten wir, wie Kolonnen mit feindlicher militärischer Ausrüstung mit einer Geschwindigkeit von 50 bis 70 km/h auf das Wasserkraftwerk Kakhovskaya zurasten.
Gleich am ersten Kriegstag wurde Cherson beschossen und sämtliche Einwohner der Stadt begaben sich auf die Suche nach dem nächstgelegenen Luftschutzbunker. Ich richtete einen Schlafplatz im Flur ein, weil ich dachte, es wäre nicht sicher, wenn ich mich während des Beschusses im Keller eines Wohnhauses versteckte.
Wie die meisten Einwohner von Cherson machte ich mir keine Sorgen um eine Evakuierung oder die Lebensmittelversorgung. Die Bürger von Cherson fingen an zu begreifen, dass jeder Tag, der unter Bombenangriffen und Besatzung gelebt wird, eine große Leistung jedes einzelnen Zivilisten ist. Sie zeigten uns, was es heißt, alles dafür zu tun, die Menschenwürde zu bewahren.“
Wie ist die Situation im Moment in der Stadt Cherson?
„Als die Besatzungstruppen in Cherson einmarschierten, hörte der Beschuss der Stadt auf. Eine Ausgangssperre wurde eingeführt, die die Stadt jedoch nicht vor Plünderungen bewahrte. Daher organisierten sich die Einwohner und stoppten innerhalb von zwei Tagen mit harten Maßnahmen die Gesetzlosigkeit. Mittlerweile trauen sich Menschen wieder raus, um etwas zum Essen oder Medikamente zu kaufen. Man muss in riesigen Schlangen anstehen, um etwas davon zu bekommen, was noch da ist. Manche haben Vorräte für ein paar Monate und diejenigen, die ärmer oder schwächer sind (einsame alte Menschen oder Behinderte), werden sehr bald Probleme haben.
Ich möchte aber sagen, dass das alles die Menschen in Cherson nicht aufhält. Jeden Tag gehen sie zu Protesten vor unserem Rathaus unter den Slogans ‚Cherson ist die Ukraine‘ und ‚Russen, geht nach Hause‘.
Wie viele Menschen konnten fliehen?
„Aus meinem engeren Bekanntenkreis konnte niemand fliehen, alle blieben in Cherson. Aber ich kenne Leute, die es geschafft haben. Das sind hauptsächlich Beamte, Abgeordnete und wohlhabende Leute. Mein Nachbar hat seine Familie am 24. Februar aus der Stadt rausgebracht, konnte aber nicht zurückkehren. Er trat den ukrainischen Streitkräften bei.“
Wie ist die Versorgungslage insgesamt? Welche Gegenstände des täglichen Bedarfs sind knapp?
„Den Stadtbehörden ist es gelungen, das Problem der Brotlieferung zu lösen. Es ist möglich, Brot zu kaufen oder sogar kostenlos zu bekommen. Andere Lebensmittel sind für diejenigen ein Problem, die kein Geld (insbesondere kein Bargeld) zur Verfügung haben und nicht stundenlang in Schlangen anstehen können.
Fleischwaren und Eier sind kaum zu finden und die Preise haben sich verdoppelt. Gemüse wie Zwiebeln, Kartoffeln und Kohl sind dreimal teurer als noch vor zwei Wochen. Zucker habe ich in letzten Tagen gar nicht mehr gesehen.
Apotheken verkaufen ihre letzten Bestände. Nahrungsmittel für Kinder sind knapp. Alle Kategorien von Patienten, insbesondere chronische Patienten, können nicht richtig versorgt werden. Es gibt ein paar Tankstellen, vor denen ebenfalls kilometerlange Schlangen sind.“
Lässt sich die medizinische Versorgung in ihrer Stadt aufrechterhalten?
„Unsere Mediziner arbeiten hart. Dem aktuellen Stand nach (Anm. d. Red.: 11. März 2022) nehmen nur zwei Polikliniken und eine Ambulanz noch Patienten auf. Neben der Notfallversorgung werden Verbände angelegt, Infusionen gelegt und Impfungen gegen COVID-19 durchgeführt. Es besteht aber die Möglichkeit, eine ärztliche Beratung oder ein Rezept online zu bekommen. In Kinderkliniken werden junge Patienten hauptsächlich online oder telefonisch beraten. Trotz Schwierigkeiten geben alle medizinischen Fachkräfte ihr Bestes, um den Bewohnern von Cherson auf qualifizierte Weise bei den ambulanten medizinischen Versorgungen und Behandlungen zu helfen.
Die private Klinik Taurt Medical behandelt die Menschen kostenlos. ‚Angesichts der Kriegszeit haben wir uns entschieden, die medizinische Versorgung kostenlos anzubieten. […] Die Patienten, die zahlen möchten, können dies im Rahmen ihrer Möglichkeiten tun. Aber das ist nicht nötig‘, sagte der Leiter der Klinik, Alexei German, auf seiner Facebook-Seite.“
Das Interview wurde aus dem Russischen übersetzt von Daria Hüllen.
Bildquelle: Haley Lawrence, unsplash