Krankenkassen klagen über explodierende Behandlungskosten für seltene Erkrankungen – und gleichzeitig lässt die EMA mehr und mehr Orphan Drugs zu. Naht die finanzielle Katastrophe?
Einmal mehr sorgt der AMNOG-Report der DAK für Kontroversen. Die neueste Analyse zeigt, dass in 2020 rund 540.000 Euro pro Jahr und Patient für Orphan Drugs ausgegeben worden sind. In 2011, dem ersten Jahr des Arzneimittelmarktneuordnungsgesetzes (AMNOG), waren es 97.000 Euro. Damit hätten sich die Kosten verfünffacht, schreiben die Autoren. Als Zehn-Jahres-Schnitt nennen sie 126.000 Euro.
Was sagt die Industrie zu den Vorwürfen? DocCheck hat beim Verband der forschenden Arzneimittelhersteller (vfa) nachgefragt. „Orphan Drugs machen rund 4,5 % der gesamten Arzneimittelausgaben der Krankenkassen im ambulanten Bereich aus“, sagte ein Sprecher. „Sie kommen allein deshalb nicht als Kostentreiber in Betracht, weil das betroffene Volumen schlicht zu klein ist.“ Für knapp zwei Drittel dieser Medikamente würden Krankenkassen nicht mehr als 10 Millionen Euro im Jahr ausgeben, und für nur zehn Orphans lägen die Ausgaben über 50 Millionen Euro im Jahr.
Doch warum bekommen gerade Orphan Drugs diese Aufmerksamkeit? Ein Blick auf Hintergründe: Die europäische Arzneimittelagentur (EMA) definiert seltene Erkrankungen als Leiden mit maximal fünf Patienten pro 10.000 Einwohner. Schätzungsweise 6.000 seltene Erkrankungen soll es weltweit geben; die Zahl ist womöglich höher. Allein in Deutschland leben laut Schätzungen des Bundesministeriums für Gesundheit etwa vier Millionen Menschen mit einer seltenen Erkrankung; EU-weit sind es um die 30 Millionen Patienten.
Hinzu kommt die bekannte Strategie, Erkrankungen nach Möglichkeit individualisiert oder personalisiert zu therapieren. Das führt unweigerlich zur Aufsplittung großer Krankheitsbilder, etwa aus der Onkologie, in Subgruppen, teilweise mit Patientenzahlen wie bei seltenen Krankheiten. Biomarker oder Gensignaturen gewinnen bei der Entwicklung neuer Therapien an Bedeutung, während das Organsystem, in dem beispielsweise ein Tumor lokalisiert ist, unwichtiger wird.
Über Jahrzehnte hinweg sind aufgrund hoher Entwicklungskosten und geringer Rendite-Aussichten nur wenige Orphan Drugs im Markt gelandet. Erst die EU-Verordnung 141/2000 hat die Situation deutlich verbessert. Wurden zwischen 1996 und 1999 nur fünf Präparate zugelassen, waren es zwischen 2014 und 2021 genau 115.
Was hatte sich verändert? Um trotz geringer Patientenzahlen die Entwicklung von Medikamenten gegen seltene Erkrankungen attraktiv zu machen, greifen einige Sonderregelungen. Zulassungsstudien können weniger Patienten einschließen und oftmals gibt es keine Vergleichstherapien. Medikamente erhalten unabhängig vom Patentschutz eine zehnjährige Marktexklusivität. Hinzu kommt ein sogenannter fiktiver Zusatznutzen, sollte sich der Mehrwert nicht quantifizieren lassen (§ 35a SGB V). Das gilt bis zu einer Umsatzschwelle von 50 Millionen Euro pro Jahr.
Im BMJ kritisierten Forscher, die europäische Regelung habe zu einer Orphanisierung bei der Forschung, Entwicklung und Zulassung geführt. Erst bei Umsätzen jenseits der 50 Millionen Euro durchlaufen Orphan Drugs eine reguläre Nutzenbewertung. Allein in 2019 seien 20 Orphan Drugs zu Blockbustern avanciert, heißt es im Artikel.
Solche Nutzenbewertungen seien nicht immer von Erfolg gekrönt, wie das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) berichtet. Forscher haben Daten von 41 Orphan Drugs analysiert, die aufgrund ihres Umsatzes normal bewertet wurden. In mehr als der Hälfte aller Fälle (21 Bewertungen, 51 %) sei der fiktive Zusatznutzen nicht bestätigt worden, schreibt das Institut in einer Meldung.
„Dies hat Folgen für die Qualität der Patientenversorgung“, sagt Thomas Kaiser, Leiter des IQWiG-Ressorts Arzneimittelbewertung. „Neue Arzneimittel werden in diesen Fällen ohne Datengrundlage bevorzugt eingesetzt. Die Patientinnen und Patienten haben dann viel Hoffnung in ein neues Arzneimittel gesetzt, für das erst Jahre später klar wird, dass es gar keinen Nachweis einer Überlegenheit gegenüber den vorhandenen Therapieoptionen gibt.“
Die Forderung lautet deshalb: „Zehn Jahre nach Inkrafttreten des Gesetzes zur frühen Nutzenbewertung ist es Zeit, das Privileg des Zusatznutzens für Orphan Drugs abzuschaffen“, erklärt IQWiG-Chef Jürgen Windeler. „Auch Arzneimittel gegen seltene Erkrankungen sollten bei Markteintritt eine reguläre frühe Nutzenbewertung gegenüber der zweckmäßigen Vergleichstherapie durchlaufen.“
Der vfa-Sprecher sieht das andres: „Das AMNOG-Prozedere ist auf große Datenmengen ausgerichtet, die eben bei Orphans nicht vorliegen, so dass Orphans regelmäßig unter die Räder kämen, obwohl sie in der Therapie dringend erwartet werden.“
Nun haben Krankenkassen, deren Institute und pharmazeutische Hersteller naturgegeben andere Interessen. Dennoch eint sie der Wunsch, Patienten mit seltenen Erkrankungen besser zu versorgen.
Sinnvoll wäre, zu erfassen, welche Kosten anfallen, falls Betroffene mit seltenen Erkrankungen nur symptomorientiert oder palliativ behandelt werden. Eine US-Studie aus 2021 zeigt, dass sie wesentlich mehr Leistungen des Gesundheitssystems in Anspruch nehmen als Patienten mit häufigen Erkrankungen. Das heißt im Klartext: Orphan Drugs können Behandlungskosten senken und im besten Fall, wie bei Gentherapien, Patienten heilen. Darüber hinaus sollten volkswirtschaftliche Verluste durch die Morbidität und Mortalität ins Kalkül gezogen werden, was in der genannten Studie fehlt.
In den USA und in Großbritannien diskutieren Arzneimittelexperten deshalb das Modell „pay for peformance“: Vergütungen orientieren sich an genau festgelegten Kriterien, etwa an der Erfolgsrate kurativer Therapien. „Als Industrieverband sind wir dem Leistungsgedanken gegenüber sehr aufgeschlossen und können dem Gedanken „pay for performance“ – auch bei Orphan Drugs – sehr viel abgewinnen“, so der vfa-Sprecher. „Unserer Meinung nach könnte er im Arzneimittelsektor stärker zum Tragen kommen.“
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