Ein neu entwickelter Chip kann das Zusammenspiel mehrerer Organe nachahmen. Mit seiner Hilfe sollen komplexe Stoffwechselvorgänge schnell und einfach im Labor untersucht werden können – ohne dass ein Tier dafür sterben muss. Ist das Ende der Tierversuche nah?
Die Forscher des Dresdner Frauenhofer-Instituts arbeiten zusammen mit dem Institut für Biotechnologie der TU Berlin an der Entwicklung eines künstlichen Organismus im Miniaturformat. „Unser System ist ein Miniorganismus im Maßstab 1:100.000 zum Menschen“, erklärt Dr. Frank Sonntag vom Fraunhofer-Institut für Werkstoff und Strahltechnik in Dresden. In speziellen Kammern werden Zellen deponiert. Dabei können verschiedene Zelltypen von ganz unterschiedlichen Spendern zum Einsatz kommen, die sich beispielsweise hinsichtlich Geschlecht, Ethnizität, Alter, Körpergröße oder Gewicht unterscheiden. Der Clou: Die zellbestückten Kammern sind durch mikrofluidische Kanäle miteinander verbunden. Eine Mikropumpe sorgt dafür, dass kontinuierlich Flüssigkeit durch die Kanäle und Kammern fließt. Diese Strömung ist für die Replikation der Vorgänge im intakten Organismus sehr wichtig, betont Dr. Sonntag: „Man weiß heute, dass bestimmte Nierenzellen, sogenannte Endothelzellen, bei fast allen Nierenerkrankungen eine Schlüsselrolle spielen. Bisher gab es bei In-vitro-Tests das Problem, dass Endothelzellen nur unter Strömung funktionieren. Hier könnte unser Multiorgan-Chip eine Testumgebung bieten, in der sich beobachten lässt, wie sich Zellen nach einer Schädigung regenerieren.“ Passend zum miniaturisierten System sind auch die transportierten Flüssigkeitsmengen extrem klein. „Dadurch ist das Verhältnis zwischen Zellprobe und flüssigem Medium realitätsgetreu“, erläutert Dr. Sonntag. Der miniaturisierte Multiorgan-Chip ist bereits bei einigen Unternehmen, beispielsweise aus der Kosmetikindustrie, im Einsatz. Doch auch in der medizinischen Forschung sind zahlreiche Anwendungen denkbar. Das Streben nach Ersatz- und Ergänzungsmethoden zum klassischen Tierversuch hat bereits viele neue Verfahren hervorgebracht, die erfolgreich eingesetzt werden, zum Beispiel 3D-Zellkulturen und Computersimulationen. Dank dieser Methoden konnte die Zahl der Versuchstiere, die beispielsweise für die Zulassungsprüfung einer neuen Wirksubstanz nötig ist, erheblich reduziert werden.
Tierversuchsgegner vertreten allerdings die Meinung, dass in Deutschland immer noch zu viele Tierversuche durchgeführt werden. Tatsächlich ist die Zahl der Versuchstiere in den letzten 10 Jahren stetig gestiegen, von 2,1 Millionen Wirbeltieren im Jahr 2003 auf 3,1 Millionen im Jahr 2012, 2013 sank die Zahl der Versuchstiere dagegen zum ersten Mal. Von den 2013 knapp 3 Millionen in Versuchen verwendeten Wirbeltieren waren 2,2 Millionen Mäuse und 376.000 Ratten. Den Rest machten überwiegend Fische, Kaninchen und Vögel aus. Bei den Mäusen betrug der Anteil genetisch veränderter Tiere 41 % – eine Zahl, die seit Jahren steigt und die Tatsache wiederspiegelt, dass transgene Tiere dank technischer Fortschritte zunehmend leichter, schneller und günstiger herzustellen sind und als Krankheitsmodell immer stärker an Bedeutung gewinnen. Nicht in der Statistik enthalten sind dagegen Tiere, die zwar für Versuchszwecke gezüchtet wurden, aber nicht zum Einsatz kamen, da sie beispielsweise den falschen Genotyp hatten.
Auch werden nicht alle in der Versuchstierstatistik aufgeführten Tiere tatsächlich für Tierversuche im juristischen Sinne eingesetzt. Als Tierversuch gelten laut § 7 Tierschutzgesetz alle Eingriffe oder Behandlungen zu Versuchszwecken an Tieren oder am Erbgut von Tieren, wenn sie mit Schmerzen, Leiden oder Schäden für diese Tiere oder ihre Nachkommen verbunden sein können. Unter diese Definition fällt daher auch schon das Spritzen einer Injektionslösung oder eine einfache Blutabnahme beim Tier. Das Töten eines Tieres, um dessen Organe oder Gewebe zu wissenschaftlichen Zwecken zu verwenden, gilt dagegen nicht als Tierversuch. Die aktuelle Versuchstierstatistik zeigt, dass von den knapp 3 Millionen Wirbeltieren ca. 800.000 unter diese Ausnahmeregelung fallen. Ein Teil dieser Tiere wird dazu verwendet, um Organ- oder Zellkulturen anzulegen, die wiederum zur Erforschung und Entwicklung von Ersatz- und Ergänzungsmethoden zum Tierversuch genutzt werden können.
Tierversuche sind nur dann erlaubt, wenn sie zu einem bestimmten Zweck unerlässlich sind. Darunter fallen die Erforschung physiologischer Prozesse (Grundlagenforschung) ebenso wie die Entwicklung neuer Produkte und Therapieverfahren. Manche Tierversuche sind sogar gesetzlich vorgeschrieben: Bevor ein neuer Wirkstoff am Menschen getestet werden darf, muss seine Sicherheit im Tierversuch getestet worden sein. 2013 wurden für toxikologische Untersuchungen und andere Sicherheitsprüfungen ca. 150.000 Wirbeltiere verwendet, der Großteil waren Nagetiere (ca. 92.000) und Fische (ca. 50.000). Bei allen Tierversuchen lautet das Credo seit Jahrzehnten: Reduce, refine, replace (zu Deutsch: verringern, verbessern, ersetzen). Ziel ist es immer, so viele Tiere wie nötig, aber so wenige wie möglich zu verwenden. Und selbstverständlich sollen die Tiere adäquat gehalten und im Versuch so wenig wie nötig belastet werden. Der Experimentator muss daher die Gründe für sein Forschungsvorhaben angeben, erklären warum ein Tierversuch unerlässlich ist, und seine Kompetenzen in der Tierhaltung und Durchführung des Versuchs nachweisen.
Tierversuchsgegner sind jedoch der Meinung, dass die Ergebnisse von Tierversuchen nicht auf den Menschen übertragbar und daher grundsätzlich unnötig sind. Der Verein Ärzte gegen Tierversuche e.V. beispielsweise fordert „ein Ende des unethischen und wissenschaftlich fatalen Irrwegs Tierversuch“ sowie die Abschaffung aller Tierversuche. Der Verein lehnt Tierversuche ab und führt dafür ethische, medizinische und wissenschaftliche Gründe an. Zudem stellt der Verein die kühne Behauptung auf, die Fokussierung der medizinischen Forschung auf Tierversuche habe Schuld daran, dass es bei der Bekämpfung der heutigen Volkskrankheiten wie Krebs, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Diabetes, Rheuma und Allergien noch keinen Durchbruch gegeben hat. Viele Wissenschaftler, Ärzte und Organisationen sehen das jedoch anders. „Immer dann, wenn Funktionen des intakten Organismus im Vordergrund einer Fragestellung stehen, sind Untersuchungen an Tieren notwendig“, sagt Prof. Gerhard Heldmaier, Tierphysiologe an der Universität Marburg und Vorsitzender der Senatskommission für tierexperimentelle Forschung der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG). Tierversuche sind seiner Meinung nach „unvermeidlich, um die Grundlagen des Lebens zu verstehen und Fortschritte in der Medizin zu erreichen“. Als Beispiel für die Entwicklung einer neuen Behandlungsmethode führt er die Tiefenhirnstimulation bei Parkinson-Patienten an. Den Grundstein für diese Therapie habe die biomedizinische Grundlagenforschung gelegt – einschließlich Studien und Testreihen an Affen.
Apropos Affen: Unlängst machten schockierende Bilder aus dem Max-Planck-Institut für biologische Kybernetik in Tübingen die mediale Runde. Affen würden dort gequält und einen grausamen Tod sterben, behauptet die Tierschutzorganisation „Soko Tierschutz“, die einen Pfleger in das Institut einschleuste, um dort illegale Aufnahmen anzufertigen. Nach Ausstrahlung des Materials war die öffentliche Empörung erwartungsgemäß groß, Rufe nach einem Stopp der Primatenforschung in Deutschland wurden laut. Die Max-Planck-Gesellschaft versprach in einer Stellungnahme, die Vorwürfe sorgfältig zu prüfen, machte jedoch auch deutlich, dass Tierversuche – auch an nichthumanen Primaten – weiterhin notwendig seien, um zentrale wissenschaftliche Fragen zu beantworten. Diese Forschung schaffe u.a. die Grundlage für neue Behandlungsansätze in der Medizin.
So emotional die Debatte um Forschung an Primaten auch geführt wird: Tatsächlich machen sie nur einen winzigen Bruchteil der Versuchstiere in Deutschland aus. 2013 wurden 93 Halbaffen, 287 Neuweltaffen und 1.785 Altweltaffen als Versuchstiere verwendet, Menschenaffen überhaupt nicht. Selten gesprochen wird dagegen von den Milliarden Fliegen und Würmern sowie den zahlreichen Pflanzen, die in deutschen Laboren leben und sterben. Ist ihr Leben weniger wert als das von Primaten und Mäusen? Heutzutage sei ein „gemäßigter Biozentrismus“ bzw. ein „gemäßigter Anthropozentrismus“ als Moraltheorie weit verbreitet, meint Dr. Karin Blumer, Tierärztin und promovierte Philosophin. „Beide Theorien verleihen allen Lebewesen einen moralischen Status, dessen verpflichtender Eigenwert jedoch mit der Höhe der jeweiligen Spezies in der „Scala naturae“ (Hierarchie der Organismen) ansteigt.“ Hinzu kommt, dass der Anteil der Versuchstiere an der Gesamtzahl der in Deutschland verwendeten Tiere verschwindend gering ist. 2013 wurden 3,5 Millionen Rinder, 60 Millionen Schweine, 1 Millionen Schafe und 700 Millionen Hühner, Enten und Truthühner in Deutschland geschlachtet – größtenteils für die Produktion von Nahrungsmitteln. Versuchstiere machen im Vergleich dazu nur 0,4 Prozent aus. Zweifelsfrei ist jedes Tier, das unnötig leiden muss, ein Tier zu viel. Die Entwicklung von Ersatz- und Ergänzungsmethoden wie beispielweise Multiorgan-Chips ist ein richtiger und notwendiger Schritt, um die Anzahl der Versuchstiere zu minimieren. Ob diese Verfahren jedoch in absehbarer Zukunft das komplexe Zusammenspiel von mehr als 200 verschiedenen Zelltypen in einem intakten Organismus nachstellen und Tierversuche so vollständig ersetzen können, bleibt dagegen abzuwarten.