Wollen Ärzte mit einer Therapie gegen Tinnitus helfen, stehen sie häufig vor einem zentralen Problem: Man kann das Leiden nicht objektiv nachweisen. Ein neuer Ansatz macht die Störgeräusche messbar.
Ohrgeräusche können mit vielfältigen Ursachen und Symptomen einhergehen. Eine präzise Diagnostik ist aber oft knifflig, weil sich das Krankheitsbild zumeist nicht im Detail rekonstruieren lässt bzw. sich die Töne nicht messen lassen. Probleme und Umwege, eine wirksame Therapie zu finden, sind da an der Tagesordnung. Bis jetzt.
Licht ins Dunkel bringen die Ergebnisse des Teams um Christopher R. Cederroth von der Abteilung für Physiologie und Pharmakologie des Karolinska-Instituts in Schweden. Er und sein Team haben in zwei Studien sowohl die epidemiologische Entwicklung von Tinnitus-Betroffenen als auch die individuellen elektrophysiologischen Auswirkungen bei Anwendung einer Hirnstamm-Audiometrie („Auditory Brainstem Response“ – kurz: ABR) beobachtet.
Obwohl die Methode nicht neu ist, konnten Cederroth und seine Kollegen erstmals repräsentative Ergebnisse auf dem Gebiet hervorbringen. In den vorangegangenen Reihen mangelte es vor allem daran, dass die Probandenreihen nicht ausreichend groß waren (n = 17–76) und nur eine unzureichende Einteilung der Probanden und deren Tinnitus-Leiden vorgenommen wurde.
So stützte sich das Forscherteam in Schweden auf die Daten von über 400 Probanden mit unterschiedlichen Tinnitus-Ausprägungen (seltener Tinnitus, häufiger Tinnitus, chronischer Tinnitus) sowie eine Anzahl von Personen ohne Tinnitus als Vergleichsgruppe.
Woher kommt der Ton nun, der mitunter ein Leben lang bleiben kann? Um das Piepen zu lokalisieren, maßen die Wissenschaftler die Hirnstammpotenziale aller Probanden, da – so angenommen – sich Potenziale in Stärke und zeitlichem Auftreten je nach Tinnitus-Leiden unterscheiden müssten. Gesagt, getan.
Mit Elektroden am Kopf versorgt, hörten alle Probanden die gleichen Töne, während daraufhin mit Hilfe der ABR alle fünf im Hirnstamm generierten elektrischen Signale (Wellen) aufgezeichnet wurden. Erstmals untersuchten Forscher dabei das Auftreten von Tinnitus für jedes Ohr separat. Während die Daten für die gelegentlich an Tinnitus Leidenden sowie die Nichtbetroffenen keine signifikanten Veränderungen in der Latenz aufwiesen, konnten bei den chronisch Erkrankten verzögerte Hirnstammpotenziale der Colliculi inferiores gemessen werden. „Diese Veränderung der Welle V bleibt auch dann robust, wenn biologische Faktoren wie Alter, Geschlecht, Hörverlust oder akustische Überempfindlichkeit berücksichtigt werden“, berichten die Forscher in ihrer Veröffentlichung.
Da ist er also – der chronische Tinnitus. Doch was tun mit der Nachricht? „Wir glauben, dass unsere ABR-Methode eine ausreichende Sensitivität aufweisen kann, um als diagnostisches Instrument verwendet zu werden. Die Methode misst die neuronale Veränderung des Hirnstamms bei Menschen mit konstantem Tinnitus, die in Zukunft zu einem Biomarker werden könnte“, so Cederroth im Facharzt-Journal Neuromedizin.
Sprich: Dem Patienten mit relativ klarer Gewissheit sagen zu können, ob er ein chronisches oder temporäres Piepen wahrnimmt, ist schon mal der erste Punkt. Auch, dass Lemniscus lateralis, Nucleus olivaris inferior, Nuclei cochleares und der Hörnerv als ursächliche Regionen ausgeschlossen werden, ist für weitere Therapieansätze ein wichtiger Aspekt.
Last, but not least lassen sich mit der nachgewiesenen Messbarkeit auch bessere Therapien entwickeln, da die Auswirkungen auf die Latenz direkt messbar sind und beispielsweise Anpassungen in Medikationen wirkgenauer vorgenommen werden können.
Die Forscher wollten zusätzlich einen Überblick zur Entwicklung des Krankheitsbilds erhalten und die Korrelation von temporärem und konstantem Tinnitus erfassen. Dazu werteten sie in einer zweiten Probandenreihe Daten von insgesamt 20.439 Teilnehmern aus, die zwischen 2008 und 2018 in der Swedish Longitudinal Occupational Survey of Health (SLOSH) erfasst wurden.
Unabhängig von Alter, Geschlecht oder Vorerkrankung der Teilnehmer stellten die Forscher fest, dass Personen mit gelegentlichem Tinnitus wesentlich häufiger zu einem konstanten Tinnitus neigen als Personen ohne Vorbelastung. Ebenso steigert ein konstanter Tinnitus über einen gewissen Zeitraum die Wahrscheinlichkeit von permanenten Ohrgeräuschen.
Was das für Cederroth bedeutet und welchen Auftrag er daraus mitnimmt, weiß er genau: „Wir müssen diese Ergebnisse verbreiten, so dass Menschen, die ab und zu ein Piepsen im Ohr haben, sich über die Risiken im Klaren sind und die Chance haben, etwas dagegen zu tun.“
Dass Cederroth und sein Team noch lange nicht am Ende ihrer Arbeit sind, ist ihnen ebenfalls bewusst. So liegt eine grundlegende Problematik beispielsweise darin, dass beide Teilstudien mit unterschiedlichen Personengruppen vorgenommen und die Ergebnisse dadurch nur schwer miteinander verglichen werden können. Weiterhin ist die Tatsache, dass gelegentlicher Tinnitus seinen Status ändern und auch abklingen oder zu chronischem Tinnitus werden kann, problematisch für eine Langzeitstudie. Zuletzt stehen die Wissenschaftler auch aufgrund ihrer erstmaligen separaten Untersuchtung beider Ohren auf neuem Forschungsboden – der in weiteren Studien bestätigt und untermauert werden muss.
Auch müssen noch Mittel und Wege gefunden werden, um auf die individuellen Leiden besser einzugehen sowie die Abstufungen des Tinnitus besser bzw. überhaupt gezielt therapeutisch begleiten zu können.
Die neuen Erkenntnisse und die Anwendung der Hirnstamm-Audiometrie scheinen jedoch bestens dazu geeignet, zukünftig in die Laborarbeit eingebunden und auch als praktische objektive Messmöglichkeit genutzt zu werden. Das ist die Grundlage für einen weiteren langen Weg mit möglichst wenigen Störgeräuschen.
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