Neuronale Netzwerke sind verantwortlich für die Entstehung von Tic-Störungen. Das hat eine Charité-Studie ergeben. Was bedeutet diese Erkenntnis für Tourette-Patienten?
Das Tourette-Syndrom ist eine der bekanntesten Tic-Störungen. In Erscheinung treten diese Störungen meistens in der Kindheit. Schätzungen zufolge sind bis zu vier Prozent aller Kinder betroffen, etwa jedes hundertste Kind erfüllt die diagnostischen Kriterien eines Tourette-Syndroms. Oftmals schwächen sich die Symptome spätestens im Erwachsenenalter ab.
Eine Charité-Studie hat sich mit der Entstehung von Tics beschäftigt. „In den vergangenen Jahren hat die neurologische Forschung verschiedene Bereiche des Gehirns identifiziert, die für Tics eine Rolle spielen“, so der Erstautor Dr. Andreas Horn. Die Studie bestätigt: Keine einzelne Hirnregion ist für das Auftreten von Tics verantwortlich. Stattdessen sind sie auf eine Fehlfunktion in einem Netzwerk verschiedener Gehirnareale zurückzuführen.
Untersucht wurden 22 bereits veröffentlichte Fallbeschreibungen von Patienten, deren Symptome auf eine erworbene Schädigung der Hirnsubstanz zurückzuführen waren. Die Bereiche der verletzten Hirnsubstanz und die Hirnbereiche, die damit normalerweise über Nervenfasern verbunden wären, wurden im Detail kartiert.
Das Ergebnis: Die Hirnschädigungen der Patienten – trotz unterschiedlicher Lokalisation im Gehirn – waren nahezu alle Teil eines gemeinsamen Nervengeflechts. Dieses Netzwerk umfasste verschiedenste Bereiche des Gehirns inklusive Cortex insularis, Gyrus cinguli, das Striatum, den Globus pallidus internus, den Thalamus sowie das Cerebellum.
Bassam Al-Fatly, einer der beiden Erstautoren der Studie, erläutert: „Diese Strukturen sind praktisch über das gesamte Gehirn verteilt und haben unterschiedlichste Funktionen, von der Steuerung der Motorik bis zur Verarbeitung von Emotionen. Sie alle wurden in der Vergangenheit bereits als mögliche Auslöser für Tics diskutiert, ein eindeutiger Beweis ist jedoch bisher nicht gelungen und auch ein direkter Zusammenhang zwischen diesen Strukturen war nicht bekannt. Jetzt wissen wir, dass diese Hirnbereiche ein Netzwerk bilden und tatsächlich die Ursache für Tic-Störungen sein können.“
Dass dieses identifizierte Nerven-Netzwerk auch für die Behandlung „klassischer“ Tics relevant ist, zeigte die Studie anhand einer Analyse von 30 Patienten mit Tourette-Syndrom, denen Hirnschrittmacher mit unterschiedlich platzierten Elektroden implantiert wurden. Die Platzierung der Elektroden wurde durch Hirnscans für jeden der Betroffenen exakt bestimmt. Tatsächlich zeigte sich, dass die Symptome am stärksten zurückgingen, je präziser die Elektroden das Tic-Netzwerk stimulierten. Das ist vor allem für die Behandlung besonders schwerer Tic-Störungen relevant. In Zukunft könne bei der Implantation von Hirnschrittmachern das Tic-Netzwerk berücksichtigt werden.
„Wir hoffen, dass wir so den wirklich hohen Leidensdruck für die Betroffenen noch besser abmildern können, um ihnen ein weitestgehend selbstbestimmtes und sozial erfülltes Leben zu ermöglichen“, so Dr. Christos Ganos, Erstautor der Studie und oberärztlicher Leiter der Ambulanz für Tic-Störungen an der Klinik für Neurologie mit Experimenteller Neurologie am Charité Campus Mitte.
Dieser Text basiert auf einer Pressemitteilung des Informationsteam Wissenschaft. Die Originalpublikation haben wir euch hier und im Text verlinkt.
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