Das Leben als Angehöriger eines Arztes macht dich schnell zum bloßen Anhängsel. So rückt die Individualität in den Hintergrund – wie ich es selbst erlebt habe und gerade bei meiner Tochter sehe.
Vergangene Woche kam meine Tochter vom Schwimmtraining und beschwerte sich: „Du, Mama? Da hat eine über mich gesagt ‚Das ist die Tochter von der Frau Landärztin‘!“ Sie ist zwölf und seit ein paar Wochen in einem neuen Schwimmverein. Da unser Wohn-Dorf selbst kein Schwimmbad und somit auch keinen Schwimmverein hat, hatten wir sie in der Gemeinde angemeldet, in der die Praxis liegt, in der ich arbeite.
Als erstes ging mir Shirley Bassey durch den Kopf: „It's all just a little bit of history repeating …“. Ich bin selbst ein Arztkind und kenne es gut, die „Tochter vom Herrn Doktor“ zu sein. Ich weiß nicht genau, ob es einen gewissen Zeitpunkt gab, an dem mir das zum ersten Mal aufgefallen und dann auch aufgestoßen ist. Es sind einzelne Szenen, in denen ich mich daran erinnere, dass ich die Augen verdreht habe, weil ich mal wieder „die Tochter vom Herrn Doktor“ war. Einkaufen in der Stadt, Sport im Verein oder auch in der Schule gab es eine Menge Leute, die meinen Vater kannten und – wie mir später erst klar geworden ist – seine Patienten waren.
Als meine Tochter jetzt damit ankam, fragte ich mich, wie ich darauf reagieren und was ich ihr sagen könnte. Natürlich nervt es sie – gerade jetzt am Anfang der Pubertät –, dass sie nicht als sie selbst, sondern vor allem als meine Tochter und damit als das Anhängsel von jemand anderem wahrgenommen wird. Sie hat aber Glück, dass zumindest die Schule größtenteils davon frei sein sollte. Denn sie geht in der Stadt zur Schule und ich wüsste von keinen Patienten, die an dieser Schule arbeiten.
Aber: Freizeitaktivitäten hier auf dem Land sind und werden in der Hinsicht schwierig. Als Ärztin ist man immer exponiert. Auch mein Mann war verblüfft, als er im Bus mit Namen von jemandem angesprochen wurde, den er definitiv nicht kannte. Bis ich ihm das Phänomen erklärte, dass er ab jetzt der „Mann von der Frau Landärztin“ ist und somit auch keine Anonymität mehr genießen wird.
Es wäre auch gelogen, zu sagen, dass das nur Nachteile hat. Wenn ich hin und wieder um etwas bitte, dann legen sich Leute sicherlich mal etwas mehr ins Zeug – weil es eben für „die Frau Landärztin“ ist, die ja auch geholfen hat, als die Oma krank war. Und das färbt auf meine Familienmitglieder ab. Bitte nicht falsch verstehen: Es geht mir nicht um illegales Gemauschel, sondern manchmal um den Tipp „Versuchen Sie es doch mal da“ oder das freundliche „Ich schau mal, ob wir noch was haben“, anstatt nur zu sagen: „Da können wir nicht helfen.“
Aber für Kinder und vor allem Jugendliche ist es einfach doof, eben weil man versucht, auf eigenen Füßen zu stehen. Das kenne ich noch von früher und das habe ich meiner Tochter auch so gesagt.
Andererseits: Niemand ist eine Insel und ich glaube, es ist eine wichtige Lektion, sich im Kontext zu anderen zu sehen. Ich bin nämlich nicht nur die „Tochter vom Doktor“ gewesen, sondern auch über Jahre die „kleine Schwester von …“. Meine ältere Schwester war gefühlt schon überall gewesen, wo ich hinkam. Ich weiß noch, wie es mir ein bisschen das Herz brach, als mein Schwarm mich seinem Kumpel nicht mit Namen vorstellte, sondern mit „kleine Schwester von …“. Und das, nachdem ich mir über mehrere Abende seinen Liebeskummer angehört hatte – das war als Jugendliche schon hart.
Das wird meine älteste Tochter wahrscheinlich nicht so kennenlernen, eben weil sie überall die Pionierin ist. Mein mittlerer Sohn äußerte aber auch schon, wie frustrierend das ist, immer der „kleine Bruder von …“ zu sein. Ich glaube, gerade die Jüngeren müssen sich oft vom Gefühl des Anhängsels freischwimmen. Vielleicht war das auch ein Grund, weshalb ich in eine andere Stadt zum Studium wollte und nicht direkt da, wo man immer mit dem Vater und der Schwester verglichen wird. Inzwischen stört es mich nicht mehr – auch wenn man bei Kontakt zu Leuten von früher immer mal wieder Vergleiche mitbekommt.
Wobei ich mich an eine Situation deutlich erinnere, in der ich einfach nur lachen musste: Meine Schwester hatte Abitur gemacht. Ich kam nach einem einjährigen Auslandsaufenthalt mit dem Fahrrad an der Schule an und hörte prompt, wie mich jemand als „die große Schwester von …“ bezeichnete. Mein Bruder war gemeint, er hatte in meiner Abwesenheit auf das Gymnasium gewechselt. Es geht also auch, wenn man die Ältere ist – obwohl man vorher selbst 5 Jahre auf der Schule war.
Woher kommt dieses Assoziieren und Mit-jemandem-Verbinden? Ich glaube, dass wir als soziale Wesen automatisch versuchen, den Status und Kontext des anderen abzuschätzen. Und dazu gehört in unserer Gesellschaft eben die Familie. Auch wenn das im heutigen Individualismus nicht immer gut bei allen ankommt.
Aber ganz am Ende rückt es uns vielleicht unser individuelles Selbst in den richtigen Kontext – als Mitglied einer Familie, einer Gemeinde, einer Gemeinschaft. Denn ich glaube, dass wir genau da hingehören. Nicht allein, sondern zusammen.
Wie sieht es bei euch aus? Kommt ihr aus einer Arzt-Familie und habt ähnliche Erfahrungen gemacht? Oder geht es euren Liebsten ähnlich?
Bildquelle: Daiga Ellaby, Unsplash