Nehmen Patienten ihre Präparate nicht richtig ein, hat das diverse Gründe: Manche wollen nicht mit der Tatsache leben, krank zu sein. Andere vergessen die Einnahme dringend benötigter Medikamente. Beratung allein reicht oft nicht aus. Jetzt schlägt die Stunde der Technik.
Gelder einsparen, ohne dass es weh tut – diesen Traum hatten gesetzliche Krankenversicherungen schon immer. Dabei könnte die Sache so einfach sein: IMS Health beziffert den Schaden durch falsch eingenommene oder falsch verordnete Medikamente auf 19 Milliarden Euro pro Jahr. Gesundheitsexperten geht es auch um Folgeerkrankungen, falls Patienten eigenmächtig Arzneimittelferien machen oder Präparate in der falschen Dosierung einnehmen. Besonders gravierend sind derartige Effekte bei chronischen Erkrankungen wie Asthma bronchiale, Diabetes mellitus oder Hypertonie, weiß die Weltgesundheitsorganisation WHO.
Apropos Hypertonie: Thomas Grimmsmann vom MDK Mecklenburg-Vorpommern in Schwerin und Wolfgang Himmel vom Institut für Allgemeinmedizin der Universität Göttingen haben sich eingehender mit diesem Krankheitsbild befasst. Sie werteten Arzneimittelverordnungsdaten der AOK Nordost aus, und zwar von 9.513 Menschen mit Hypertonie. Betroffene erhielten ACE-Hemmer, Angiotensin-2-Antagonisten oder Betablocker. Die Forscher arbeiteten mit folgender Fragestellung: Manche Patienten nehmen Medikamente nicht ein, wenn sie sich gut fühlen – anderer verzichten auf die Therapie, sollte es ihnen schlecht gehen. Welchen Einfluss haben individuelle Verhaltensweisen auf die langfristige Adhärenz? Gestatteten Forscher Therapiepausen über maximal 180 Tage (360 Tage), waren 28 Prozent (66 Prozent) aller Personen, die Betablocker einnehmen sollten, nach vier Jahren noch therapietreu. Bei Angiotensin-2-Antagonisten waren es 30 beziehungsweise 69 Prozent, und bei ACE-Hemmern 28 beziehungsweise 61 Prozent. Ein endgültiger Abbruch der Behandlung trat eher selten auf – temporäre Arzneimittelpausen führen nicht zum generellen Ausstieg. Apotheker sehen diese Studie mit gemischten Gefühlen – 180 beziehungsweise 360 Tage sind lange Zeiträume, in denen es zur drastischen Verschlechterung chronischer Erkrankungen kommen kann. Wie sehr Patienten ihre Präparate tatsächlich ablehnen, zeigt eine weitere Arbeit.
Robert Hutchins von der University of California San Francisco hat sich mit der Frage befasst, wie Patienten die Einnahme von Präparaten zur kardiovaskulären Prävention empfinden. Generell gilt: Je niedriger der Leidensdruck ist, desto stärker verringert sich die Adhärenz. Zusammen mit Kollegen befragte er 1.000 US-Bürger, sie waren im Schnitt 50 Jahre alt, welche Opfer sie erbringen würden, um regelmäßige Pharmakotherapien zu vermeiden. Zur Wahl standen hypothetisch Lebenszeit oder Geld. Das Ergebnis erstaunt: Immerhin gaben 21 Prozent zu Protokoll, auf mehrere Wochen bis zu zwölf Monate ihres Lebens zu verzichten. Weitere 21 Prozent entschieden sich, im Schnitt 1.445 US-Dollar zu zahlen, um ihre Pillen nicht mehr sehen zu müssen. „Auch wenn man Nebenwirkungen beiseite lässt, kann allein der Umstand, Pillen jeden Tag schlucken zu müssen, die Lebensqualität erheblich beeinträchtigen“, kommentiert Hutchins seine Resultate. Nicht alle Erkrankten seien bereit, diesen Umstand zu akzeptieren. Hier hilft nur intensive Beratung durch Arzt oder Apotheker.
Manchmal hat niedrige Adhärenz aber weitaus banalere Gründe: Gerade ältere Menschen vergessen häufig, ihre Medikation einzunehmen. Ihnen helfen technische Innovationen wie die App „Pillbox“. Herstellerangaben zufolge hat das Tool bei älteren Patienten mit Typ-2-Diabetes die Therapietreue um 26 Prozent erhöht, neutrale Studien gibt es bislang nicht. Das spanische Programmpaket ALICE schneidet aus wissenschaftlicher Sicht deutlich besser ab. Eine Studie mit 99 Patienten ergab, dass sich hausgemachte Medikationsfehler durch elektronische Helferlein signifikant reduzieren lassen. Auch Kinder und Jugendliche – bekannt als besonders intensive Nutzer ihres Smartphones – rücken in den Fokus von Apothekern. Leiden sie an chronischen Krankheiten, unterstützen zielgruppengerechte Apps bei der Pharmakotherapie. Weitere Innovationen kommen aus den USA: Proteus arbeitet an intelligenten Systemen für mehr Adhärenz. Das System besteht aus einem Sensor, der auf die Haut geklebt oder später vielleicht auch subkutan platziert wird. Es eignet sich vor allem für Patienten mit Polymedikation. Müssen sie am Morgen beispielsweise fünf Tabletten einnehmen, verbirgt sich in ihrer Box eine sechste, wirkstofffreie Kapsel. Diese reagiert mit Flüssigkeit im Magen, und der Sensor misst entsprechende Signale. Über eine App lassen sich alle Daten rasch auslesen. Pharmazeutische Hersteller haben bereits großes Interesse signalisiert, wenn auch nur in sehr speziellen Bereichen. Sie wollen bei Organtransplantationen auf freiwilliger Basis kontrollieren, ob Patienten ihre Immunsuppressiva korrekt einnehmen. Schöne, neue Welt? Tatsächlich sind bei Apps & Co. noch zahlreiche Fragen offen, etwa zum Datenschutz.