Es klingt utopisch: Führende Onkologen glauben, dass sie die Zahl der vermeidbaren Krebs-Todesfälle in Deutschland auf null bringen können– und haben dafür eine Strategie in petto. Wie die genau aussieht, lest ihr hier.
Die Zahlen sind ebenso geläufig wie erschreckend: Jährlich erkranken fast 500. 000 Menschen in Deutschland neu an Krebs. Und etwa 220.000 Menschen sterben daran, das sind 600 Patienten am Tag. Ein großer Teil dieser Todesfälle wäre jedoch vermeidbar, glauben Fachleute aus Onkologie und Gesundheit, die sich unter dem Dach der Initiative Vision Zero zusammengeschlossen haben. Ihr Ziel: Die Zahl der vermeidbaren krebsbedingten Todesfälle drastisch zu senken – und auf Dauer sogar gegen null zu bringen.
Das größte Potenzial stecke derzeit in der Prävention. „Knapp 40 Prozent aller Tumorerkrankungen entstünden gar nicht erst, wenn Menschen wichtige Risikofaktoren für die Krebsentstehung vermeiden würden“, sagt Professor Christof von Kalle. Er ist Leiter des Klinischen Studienzentrums von Berlin Institute of Health und Charité und hat Vision Zero mit initiiert. Für ihn unstrittig: Deutschland bleibt in Sachen Krebsprävention, aber auch bei der Früherkennung, noch weit hinter seinen Möglichkeiten zurück – und nimmt damit tausende vermeidbare Todesfälle in Kauf. Im Interview mit der DocCheck News Redaktion erklärt Prof. Christof von Kalle, warum er sein ehrgeiziges Vorhaben für realistisch hält – und was aktuell noch die größten Hürden für die Vision Zero sind.
Prof. Christof von Kalle © Peitz / CharitéHerr Prof. von Kalle, was meinen Sie genau mit einer „Vision Zero“?„Wir haben uns gefragt, wenn man mal über den Tellerrand unseres Gesundheitssystems hinausschaut, das ja von bestimmten Regeln, Gewohnheiten und Verfahrensweisen geprägt ist, wie ist die Gesellschaft eigentlich in anderen Bereichen mit tödlichen Bedrohungen umgegangen?
Und dabei kommt man zu dem Ergebnis: In vielen Bereichen ist es sehr gut und auch besser als in der Medizin gelungen, Gefahren zu bewältigen. Im Bereich der Arbeits-, Flug- oder Verkehrssicherheit haben wir bei den vermeidbaren Todesfällen stark abfallende Zahlen, teilweise bis auf nahe 0 oder auf 0.
Da sind wir in der Medizin noch anders drauf. Wir haben so ein schicksalhaftes Verständnis von Erkrankungen. Die Vision-Zero, wie wir sie für die Onkologie etablieren möchten, hat ihr Vorbild im Straßenverkehr. Hier sind die Erfolge auf konsequente Strategien zurückzuführen, die jahrelang im Verkehrswesen verfolgt werden: Die Todesfallrate konnte seit den 1970er Jahren in Europa um bis zu 90 Prozent gesenkt werden, obwohl der Verkehr stark zugenommen hat.
Man geht in dem System von der Regel aus, dass kein vermeidbarer Todesfall akzeptabel ist. Und, dass jeder denkbare Schritt unternommen werden sollte, um dies zu verhindern. Also Konzepte, in denen man systemweit versucht jeden Stein umzudrehen, um unerwünschte Todesereignisse zu verhindern. Das bedeutet nicht, zu sagen, wir können jeden Unfall durch menschliche Fehler verhindern. Aber wir versuchen fehlerresistente Systeme einzurichten, die solche Fehler, die individuelle Personen machen, zu einem großen Teil auffangen.“
Mit Verlaub, aber ist eine Vision Zero nicht komplett größenwahnsinnig?
„Das habe die Leute über Verkehrssicherheit ja auch immer gesagt. Aber wenn man sich jetzt die Zahlen anschaut, sieht man, dass es nicht stimmt. In 2019 hatten Oslo und Helsinki null tote Verkehrsteilnehmer, keinen einzigen Fußgänger oder Radfahrer.
Es gibt ganz viele Beispiele dafür, dass Todesfälle über eine Verkettung von Maßnahmen im Laufe der Zeit bis auf 0 runtergehen können. Wir gehen ja auch davon aus, dass Flugzeuge in der Regel gar nicht mehr abstürzen. Und nehmen es dann mit großem Unverständnis zur Kenntnis, wenn es doch einmal passiert. Da haben wir eine ganz andere Auffassung als bei Krebserkrankungen, da sagen wir: Als Gesellschaft wollen wir das nicht.“
Warum glauben Sie, hat eine Vision Zero zum jetzigen Zeitpunkt Chancen?
„Dafür gibt es mehrere Gründe: Zum einen gibt es in der Onkologie sehr große Umbrüche und neue Möglichkeiten, sowohl was die Diagnostik als auch die Therapie angeht. Von der frühen Diagnostik, der molekularen Therapie bis hin zu den Immuntherapien haben wir ein ganzes Arsenal neuer und verbesserter Werkzeuge, die uns erlauben auf der therapeutischen Seite Dinge zu bewegen. Und das ist ja auch im Bereich der Prävention so.
Das Problem ist, dass wir unser Gesundheitssystem bisher als reines Reparatursystem von entstandenen Erkrankungen optimiert haben. In Deutschland sind wir auf der Präventionsseite noch gar nicht in voller Breite aktiv. Wenn wir alles anwenden würden, was wir heute schon wissen, könnten wir wahrscheinlich die Hälfte aller Krebserkrankungen verhindern. Ich glaube, diese Erkenntnis setzt sich so langsam durch. Es ist jetzt mal an der Zeit, dieses dicke Brett zu bohren.“
Die zehn Maßnahmen der Vision Zero:
Was muss sich in Sachen Prävention ganz konkret ändern?
„Nehmen wir das Beispiel Darmkrebsvorsorge und die Frage, wie wir die Teilnahmequote erhöhen können. Bei den Frauen liegt sie aktuell unter 50 Prozent, bei Männern unter 30 Prozent.
Das ärztliche Selbstverwaltungssystem ist 2003 beauftragt worden, ein Einladesystem zu entwickeln, das jeden Gefährdeten im Land erfasst. Man hat 16 Jahre gebraucht, um sich etwas auszudenken. Und dieses Etwas ist ein sehr komplexes Verfahren, das weit hinter den Möglichkeiten zurückbleibt. Andere Länder machen es besser. Die Niederländer haben etwa das System, jedem Patienten über 50 Jahre Testbriefe mit Möglichkeit zur Probenentnahme direkt nach Hause zu schicken. Wenn das Testergebnis positiv ausfällt, zieht das automatisch eine Einladung zum Arztbesuch nach sich.
Die Teilnahmequote liegt hier bei 70–80 Prozent der betroffenen Bevölkerung. Wenn man ausmultipliziert, was das in Deutschland hinsichtlich verhinderter Erkrankungen bedeuten würde, dann sieht man erstmal, wieviel zu kurz wir eigentlich springen.“
Gibt es bestimmte Tumorerkrankungen, die im besonderen Maße vermeidbar sind?
„Noch immer ist das Rauchen nachweislich eine der Hauptursachen für Krebs – damit hängt wahrscheinlich der größte Komplex vermeidbarer Erkrankungen zusammen. Da tun wir uns in Deutschland wahnsinnig schwer, Auflagen zur Reduktion des Raucherverhaltens festzusetzen. Wir haben sehr spät erst das Rauchen in Gaststätten verboten, wir haben immer noch kein vollständiges Verbot der Tabakwerbung. Wir sind da in Europa absolutes Schlusslicht. Zigaretten sind in unserem Land so billig wie fast nirgendwo sonst. Und die Steuereinnahmen in dem Bereich werden zu 0 Prozent in Prävention investiert. Und all das machen andere Länder viel, viel besser. Das gilt auch im Bereich der Darmkrebsprävention, Stichwort Frühdiagnostik und bessere Einladesysteme.
Und bei den bei HPV-assoziierten Krebsformen, da könnten wir ebenfalls eine relativ große Zahl der Krebsfälle bei Frauen und Männern reduzieren. Es gibt Länder wie Australien, die impfen 90 Prozent ihrer Mädchen und 70 Prozent ihrer Jungen, wir in Deutschland haben weniger als die Hälfte aller Mädchen und praktisch keine Jungen geimpft. Wir sind auf Platz 37 der Weltrangliste und sozusagen das Schlusslicht der westlichen Welt in diesem Bereich. Man muss also nichts neu erfinden, sondern einfach nur besser arbeiten, um ganz viel zu erreichen.“
Für ihr Ziel wollen Sie auch beim Thema Datennutzung vorankommen. Dafür arbeitet Vision Zero an einem übergreifenden onkologischen Datensatz, dem German Oncological Data Standard (GOLD). Was erhoffen Sie sich?
„Eine konsequente digitale Nutzung von Versorgungsdaten in der Krebsmedizin ist die entscheidende Funktion, die uns an vielen Stellen fehlt. Es gibt in dem Bereich viele unterschiedliche wirtschaftliche und wissenschaftliche Datensysteme von akademischen Instituten und Pharma-Firmen bis hin zu nationalen Netzwerken. Wir haben uns gefragt: Wenn man die einfach mal in eine große Tabelle nebeneinander schreibt, was erfassen die denn eigentlich? Und sind die überhaupt in der Lage miteinander zu sprechen?
Und haben dann für das 21. Jahrhundert skandalöse Dinge festgestellt: In den Datensätzen gibt es allein sieben verschiedene Arten das Geburtsdatum der Patienten zu schreiben. Einige enthalten wichtige Laborwerte gar nicht. Fast kein Datensatz beschäftigt sich mit Nebenwirkungen. Und es existiert auch keiner, der sich in zufriedenstellender Weise mit Patient-Reported Outcomes beschäftigt. Keines dieser Datensysteme ist in der Lage, von der Diagnosestellung über die Therapie bis zur Heilung oder bis zum nächsten Therapieschritt insgesamt zu verschlüsseln. Das heißt, es existiert aktuelle noch gar keine gemeinsame Datensprache.
Wir können natürlich niemandem vorschreiben, was genau gespeichert werden soll. Aber wir sollten doch zumindest so verfahren, dass der gleiche Datenpunkt in mehreren Systemen in der gleichen Sprache abgelegt ist und man beide miteinander austauschen kann. Und das versuchen wir mit GOLD zu machen.“
Klingt nach einem Mammutprojekt. Wir kriegen in Deutschland ja nicht mal das E-Rezept termingerecht hin. Glauben Sie, dass das vor Ihrem Renteneintritt noch zu schaffen ist?
„Ich glaube zumindest, dass uns diese Pandemie gezeigt hat, dass Menschen darunter, dass wir diese Daten nicht haben, sehr gelitten haben. Es war ja hochnotpeinlich, dass wir immer auf die Daten der Australier, der Briten oder der Israelis schauen mussten. Die waren im Gegensatz zu uns in der Lage, ihre Daten aus dem Gesundheitssystem auszuzählen und zu messen.
Dadurch ist sichtbar geworden: Das ist nicht nur peinlich oder lustig – daran leiden und sterben auch Patienten, wenn wir nicht in der Lage sind Infektionswege nachzuverfolgen oder Cluster zu finden.
Insofern denke ich einfach, die Öffentlichkeit ist aufgewacht für dieses Thema. Ich habe auch den Eindruck, dass sich viele im Gesundheitssystem hinter diesem Datenschutzthema ein bisschen versteckt haben. Nach dem Motto: Ich hab kein Geld ein digitales System einzuführen und eigentlich möchte ich ja auch gar nicht, dass man so genau sehen kann, welche Therapien ich in meiner Praxis wie verorte. Oder was im Krankenhaus alles nicht so gut läuft. Und dann schreien alle immer ganz laut Datenschutz, wenn nach Daten gefragt wird.“
Wie viel Prozent der Vision Zero ist zum jetzigen Zeitpunkt bereits erreicht?
„Für das, was wir mit dem Verein Vision Zero erreichen können, sind wir vielleicht irgendwo zwischen zehn und zwanzig Prozent. Also noch ganz am Anfang. Wir haben eine Sichtbarkeit erreicht, es beginnen verschiedene Gruppen darüber nachzudenken. Aber es gibt natürlich noch viel zu bewegen. Das haben wir ja auch bei anderen Systemen gesehen, die zum Teil Jahrzehnte gebraucht haben, bis sie große Erfolge erreicht haben.“
Was sind aktuell noch die größten Hürden?
„Die verschiedenen Protagonisten in den unterschiedlichen Bereichen davon zu überzeugen, dass eine Vision Zero eben kein ganz verrückter Gedanke ist, sondern ein total machbarer. Insofern ist die Aufgabe, die wir vor uns haben, in die Köpfe und Herzen der Beteiligten reinzukommen. Damit die diese Idee nicht nur ‚nett‘ finden und beobachten, sondern erkennen, dass es ihnen persönlich die Chance bietet, etwas anders zu machen. Das ist zur Zeit noch unser größtes Hindernis.“
Bildquelle: Camila Quintero Franco, unsplash