Cannabis kann bei einer Vielzahl von Indikationen nützlich sein. Doch nur in Ausnahmefällen tragen die Krankenkassen die Behandlungskosten. Ein neues Gesetz könnte einer medizinischen Zweiklassen-Gesellschaft entgegenwirken.
Am 23. März 2015 werden sich die Mitglieder des Petitionsausschusses des Bundestags in einer öffentlichen Sitzung zur Petition von Dr. Franjo Grotenhermen beraten. Der Mediziner fordert die Kostenübernahme für cannabishaltige Medikamente sowie den Verzicht auf eine strafrechtliche Verfolgung von Patienten, die im Rahmen einer ärztlich bescheinigten Therapie Cannabisprodukte verwenden. Diese besitzen nämlich notwendigerweise deutlich mehr als nur die geringen Mengen, bei denen ein Strafverfahren wegen Verstoßes gegen § 31a des Betäubungsmittelgesetzes eingestellt werden darf. Mehr als 33.000 Personen unterschriebenen die im Mai 2014 erstellte Petition – zu wenige für das nötige Quorum von 50.000 Stimmen. Die Beratung im Petitionsausschuss findet trotzdem statt. Sicher auch deshalb, weil das Thema endlich in der Politik angekommen ist. Die Drogenbeauftragte der Bundesregierung, Marlene Mortler (CSU), gab Anfang Februar bekannt, dass die Bunderegierung noch in diesem Jahr ein Gesetz durch den Bundestag bringen wolle, das es schwer kranken Patienten ermöglichen soll, Cannabis auf Kosten der Krankenkassen zu erhalten. „Diese Neuregelung“, meint Mortler, „hätte ich lieber gestern als morgen.“ Warum also ist sie nicht bereits Realität? „Es ist nicht ganz einfach, eine Abgrenzung hinzubekommen, die wirklich nur denjenigen hilft, die das Cannabis auch tatsächlich dringend brauchen“, erläutert die Drogenbeauftragte.
Die CSU-Politikerin steht mit dieser Meinung nicht alleine da – auch prominente Vertreter anderer Parteien äußerten sich positiv zum Kiffen auf Kassenkosten. „Cannabis auf Rezept bedeutet, dass betroffene Patienten nicht stigmatisiert werden, jedem unabhängig vom Geldbeutel der Zugang ermöglicht wird und die Qualität der Arznei gewährleistet ist“, sagte beispielsweise die gesundheitspolitische Sprecherin der SPD-Bundestagsfraktion, Hilde Mattheis. Und auch Eugen Brysch, Vorsitzender der Deutschen Stiftung Patientenschutz, erklärte: „Es ist gut, dass die Bundesregierung ihre harte Haltung bei Cannabis aufgibt.“ Frank Ulrich Montgomery, Präsident der Bundesärztekammer (BÄK), befürwortete ebenfalls die geplante Gesetzesänderung, wies aber gleichzeitig darauf hin, dass zudem „die Zulassung von cannabinoidhaltigen Arzneimitteln auch für andere Indikationen sinnvoll und wünschenswert“ wäre. Das hierzulande einzige Cannabis-haltige Fertigarzneimittel, das Sublingual-Spray Sativex, ist nämlich nur zur Behandlung von Patienten mit mittelschwerer bis schwerer Spastik aufgrund von Multipler Sklerose zugelassen, die nicht angemessen auf eine andere antispastische Arzneimittel-Therapie angesprochen haben und die eine klinisch erhebliche Verbesserung von mit der Spastik verbundenen Symptomen während eines Anfangstherapieversuchs aufzeigen.
Wer bisher einen schwerkranken Patienten mit Cannabis behandeln möchte, kann dies zwar legal tun, doch die organisatorischen und finanziellen Hürden sind hoch. Wenn der eigene Patient in die eng gefasst Kategorie passt, für die Sativex zugelassen ist, bekommt der Patient sein Cannabis von der Krankenkasse bezahlt. Will man als Arzt auch andere Patienten an der heilsamen Wirkung von Cannabis teilhaben lassen, kann man im Rahmen eines individuellen Heilversuchs ein Betäubungsmittelrezept für Sativex oder eines der synthetischen Cannabinoide Dronabinol oder Nabilon ausstellen, welches dann in der Apotheke als Rezeptur hergestellt wird – die Kosten übernimmt die Krankenkasse aber in der Regel nicht. Bei einem Bedarf von 500 mg Dronabinol im Monat schlägt das Medikament für den Patienten mit etwa 400 bis 500 Euro zu Buche – eine Summe, die sich manch chronisch Kranker nicht leisten kann. Alternativ kann der Patient bei der Bundesopiumstelle des BfArM einen Antrag auf eine – selbstverständlich gebührenpflichtige – Ausnahmeerlaubnis zum therapeutischen Einsatz von Cannabis-Blüten oder Cannabis-Extrakt im Rahmen einer ärztlich betreuten und begleiteten Selbsttherapie stellen. Diese wird aber nur erteilt, wenn der Antragsteller zusammen mit dem behandelnden Arzt schlüssig darlegen kann, dass alle anderen Therapieoptionen ausgeschöpft wurden, beispielsweise weil andere Medikamente unwirksam sind oder ausgeprägte Nebenwirkungen verursachen. Zurzeit besitzen 358 Personen eine solche Ausnahmeerlaubnis. Die Kosten für die Cannabis-Blüten oder den Extrakt, die dann zur nächsten Apotheke geliefert und von dort an den Patienten abgegeben werden, muss der Patient aber trotzdem aus eigener Tasche bezahlen. 1 Gramm Cannabis-Blüten kosten zwischen 15 und 25 Euro. Bei einem Tagesbedarf von 0,5 Gramm führt dies zu monatlichen Kosten zwischen 225 und 375 Euro. Der Anbau von Cannabis zur Deckung des Eigenbedarfs ist bisher illegal, auch wenn im Juli vergangenen Jahres das Kölner Verwaltungsgericht der Klage von drei Patienten gegen ein behördliches Anbauverbot stattgab. Das Urteil ist aber noch nicht rechtskräftig, da das BfArM Berufung am Oberverwaltungsgericht Münster eingelegt hat. Zudem ist der Eigenanbau aus medizinischer Sicht problematisch, da keine gleichbleibende Wirkstoffkonzentration sichergestellt werden kann. „Eine Legalisierung des Besitzes und der Anbau für den medizinischen Eigenbedarf sind deshalb nicht zielführend“, erklärt Montgomery.
Cannabinoide besitzen ein breites Anwendungsspektrum. Am häufigsten werden sie zur Linderung folgender Beschwerden eingesetzt:
Weiterhin gibt es deutliche Hinweise darauf, dass Cannabinoide auch zur Behandlung neuropathischer Schmerzen, Fibromyalgie und entzündlich bedingter Schmerzen (z. B. bei rheumatoider Arthritis) sowie zur Milderung von Ticks beim Tourette-Syndrom geeignet sind. Zur Wirkung bei Epilepsie gibt es dagegen bisher keine ausreichenden Daten. Zu den häufigsten Nebenwirkungen von Cannabis-Produkten zählen Müdigkeit und Schwindel, zudem kann es zu Appetit- und Stimmungsschwankungen, Gedächtnisstörungen sowie Verdauungsbeschwerden kommen. Bei Jugendlichen ist außerdem ein Zusammenhang zwischen Cannabis-Konsum und psychischen Erkrankungen wie Depression, Psychose und Schizophrenie festgestellt worden. Aus diesem Grund sollten Kinder und Jugendliche nicht mit Cannabinoiden behandelt werden.
Die Cannabis-Pflanze enthält zahlreiche Wirksubstanzen; die pharmakologisch bedeutsamsten sind Tetrahydrocannabinol (THC) und Cannabidiol (CBD). Daneben enthält Cannabis aber auch noch andere Cannabinoide sowie Terpenoide und Flavonoide. Die Wirkung der Cannabinoide wird u.a. über das Endocannabinoid-System (eCB-System) vermittelt. Die Bedeutung dieses körpereigenen Systems für Gesundheit und Krankheit ist bisher unzureichend untersucht – der erste physiologische Ligand für einen Cannabinoid-Rezeptor, Anandamid (AEA), wurde erst 1992 entdeckt. Der Cannabinoid-Rezeptor 1 (CB1) ist einer der am stärksten im zentralen Nervensystem exprimierten G-Protein gekoppelten Rezeptoren, während der Cannabinoid-Rezeptor 2 (CB2) hauptsächlich in Zellen und Geweben des Immunsystems nachweisbar ist. Aufgrund des Rezeptor-Expressionsmusters ist es wenig überraschend, dass das eCB-System bei einer Vielzahl physiologischer Prozesse eine wichtige modulatorische Rolle spielt, beispielsweise bei neuronaler Plastizität und Neuroprotektion, Immunität und Inflammation, Apoptose und Karzinogenese, Schmerz und Gedächtnis sowie im Energiemetabolismus. Immer mehr Wissenschaftler gehen davon aus, dass so diverse Krankheiten wie Migräne, Fibromyalgie, Reizkolon und pathopsychologische Zustände eine gemeinsame Ursache haben: Das sogenannte eCB-Defizienzsyndrom. Die therapeutischen Effekte von Cannabis und seinen Komponenten beruhen danach einerseits darauf, dass die enthaltenen Cannabinoide als CB1- und CB2-Agonisten wirken und so fehlende Endocannabinoide substituieren. Zudem scheinen Cannabinoide das gesamte eCB-System zu modulieren, beispielsweise indem sie die AEA-Biosynthese ankurbeln und die Rezeptor-Expression regulieren. Eine chronische Administration hoher Cannabinoid-Dosen führt dagegen zu einer starken Desensitisierung und verminderter Rezeptor-Expression sowie Toleranz gegenüber der Substanz. Es ist höchste Zeit sicherzustellen, dass schwerkranke Patienten unabhängig von den eigenen Finanzmitteln angemessen mit Cannabinoiden versorgt werden können. Zudem sind aber auch mehr Forschung am eCB-System und weitere RCT-Studien, die unvoreingenommen die Wirksamkeit von Cannabinoiden beim Menschen untersuchen, dringend notwendig, um das therapeutische Potenzial dieser Substanzklasse voll ausschöpfen zu können.