Trotz wissenschaftlicher Bedenken setzen Ärzte nach wie vor Hydroxyethylstärke-Lösungen als vermeintlich harmlosen Ersatzstoff für Blutplasma ein. Europäische Behörden haben nun beschlossen, die Zulassung auszusetzen. Die Hersteller laufen Sturm.
Lange Zeit war Hydroxyethylstärke (HES) an Bord eines jeden Rettungswagens. „Im Rettungsdienst haben wir über Jahre hinweg HES bedenkenlos verwendet“, sagt Dr. Gustav Karrer aus der Nähe von München. Er war lange Zeit als Notarzt unterwegs. Jetzt schult er Kollegen und hat die jahrelange Diskussion um HES in der Wissenschaft mitverfolgt. „Seit gut fünf Jahren warne ich jüngere Kollegen, Präparate unbedacht einzusetzen.“
Wie sich Karrer erinnert, setzen Ärzte seit den 1960er Jahren auf HES als vermeintlich harmlosen Ersatzstoff für unser Blutplasma. Die chemische Verbindung lässt sich vergleichsweise einfach und preisgünstig aus Stärke herstellen. Dies hat zum weltweiten Siegeszug des Arzneistoffs beigetragen. Nahezu jeder Rettungswagen hatte HES-Lösungen mit an Bord. Ähnlich unserem Blutplasma baut das Makromolekül einen osmotischen Druck auf. Kommt es etwa aufgrund eines Schocks zum Volumenmangel, verhindert die Lösung, dass viel Flüssigkeit über das Gewebe verloren geht.
Dass HES mit etlichen Komplikationen verbunden ist, wissen Ärzte schon seit Jahren. Viele Patienten klagen über starken, langanhaltenden Juckreiz der Haut. Größere Mengen des Stärkederivats können zu Nierenschädigungen führen. Das zeigen u.a. Studien von Nicolai Haase, Copenhagen University Hospital-Rigshospitalet, und Studien von Ryan Zarychanski, University of Manitoba. Auch bei Sepis kam es zu Nierenschäden, Blutungen und letztlich zu einer höheren Mortalität. Schließlich brach das Kartenhaus zusammen, als etliche Studien zu HES aufgrund offensichtlicher Manipulationen zurückgezogen wurden.
Angesichts der erdrückenden Beweislast setzt die US Food and Drug Administration (FDA) bereits seit 2013 auf sogenannte „Black-Box-Warnungen“, also spezielle Hinweise auf Risiken. Europa reagiert ebenfalls. Im gleichen Jahr leitete der Pharmakovigilanzausschuss für Risikobewertung (Pharmacovigilance Risk Assessment Committee, PRAC) der Europäischen Arzneimittel-Agentur EMA ein Verfahren ein, um die Marktzulassung ruhen zu lassen. Als Ergebnis stelle der PRAC klar, HES nicht mehr bei Patienten mit einer Sepsis, mit Verbrennungen oder mit sonstigen schwerwiegenden Erkrankungen einzusetzen. Nach umfangreichen Bewertungen veröffentlichte die PRAC Mitte Januar ihre Entscheidung: HES soll endgültig vom Markt verschwinden. Hintergrund ist, dass sich Ärzte nicht an die Einschränkungen gehalten hatten. Wie das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) jetzt berichtet, hat die zuständige Koordinierungsstelle an der EMA der ursprünglichen PRAC-Empfehlung zugestimmt. Damit sind die Tage von HES-Präparaten gezählt. Das letzte Wort hat jedoch die Europäische Kommission.
Die absehbare Entscheidung gefällt nicht allen Akteuren. In einer Pressemitteilung zeigt sich die B. Braun Melsungen AG überzeugt, HES könne innerhalb der zugelassenen Indikation wirksam und sicher eingesetzt werden. Der Hersteller nennt vor allem schwere Verletzung oder OPs, falls der Volumenmangel nicht anderweitig ausgeglichen werden kann. Er verweist dabei auf zwei laufende Studien, deren Ergebnisse noch abzuwarten seien.