Das binäre Geschlechtersystem gerät weltweit ins Wanken: Hierzulande wird mittlerweile bei uneindeutigem Geschlecht im Geburtenregister diese Angabe weggelassen. Nun hat die BÄK eine Stellungnahme zum Thema DSD/Intersexualität abgegeben – mit weitreichenden Folgen.
Männlich oder weiblich? Diese scheinbar offensichtliche Frage ist in vielen Fällen gar nicht so leicht zu beantworten. In Deutschland werden jährlich etwa 150 Kinder geboren, bei denen eine eindeutige Geschlechtszuweisung nicht möglich ist, die Zahl der Betroffenen wird auf bis zu 120.000 geschätzt. Die Bundesärztekammer (BÄK) hat nun Ende Januar die Vorabversion einer Stellungnahme zum Thema DSD/Intersexualität veröffentlicht. Darin betont sie, dass „eine Gleichsetzung von DSD mit Fehlbildung oder Krankheit“ nicht angemessen sei. Allerdings gebe es Formen mit Funktionsstörungen, beispielsweise Salzverlust oder Nebenniereninsuffizienz beim Adrenogenitalen Syndrom (AGS, auch CAH für congenital adrenal hyperplasia), die eine Einstufung als behandlungsbedürftige Krankheit rechtfertige. Trotzdem räumt die BÄK ein, dass in anderen Fällen „dieses Urteil auf stereotypen Vorstellungen von Geschlechtsidentität und -rollen beruhen“ kann, „die sich im Zuge einer unverkennbaren gesellschaftlichen Tendenz zur Flexibilisierung von Geschlechtsidentität und -rollen als rigide erweisen können“. Bricht die BÄK also mit dem binären Geschlechterbild? Mitnichten, denn schon im Folgesatz der Stellungnahme steht, dass „die Geschlechterdualität die Ordnung von Gesellschaften sowie die soziale Identität ihrer Mitglieder nachhaltig prägt und großen Einfluss auf das Wohlbefinden ihrer Mitglieder haben kann“. Dies gelte insbesondere für Kinder, für die der Begriff „Normalität“ eine andere Bedeutung als für Erwachsene annehmen könne.
Als klinisch auffällig gilt beispielsweise, wer ein uneindeutiges Genital besitzt, einen Penis kürzer als 2,5 cm hat oder eine Klitoris größer als 0,9 cm aufweist. Betroffene bezeichnen sich beispielsweise als Inter*, Zwitter, Herms (Abkürzung für Hermaphroditen) oder Zwischengeschlechtliche. Der Bezeichnung „Drittes Geschlecht“ steht entgegen, dass es sich bei DSD/Intersexualität um einen Sammelbegriff für Geschlechtsvariationen handelt, die unterschiedliche Ursachen und Konsequenzen haben – ein homogenes drittes Geschlecht als Ergänzung zum dualen Mann-Frau-Geschlechtersystem gibt es daher nicht. Während DSD/Intersexualität in medizinischen Kreisen als Sammelbezeichnung für Störungen der vorgeburtlichen sexuellen Differenzierung (DSD, disorders of sex development, seltener differences of sex development) gilt, sehen sich viele Betroffene selbst nicht als krank oder gestört – und verweigern folglich auch eine medikamentöse oder operative Geschlechtszuweisung. Die Betroffenen halten eine Zwangsbehandlung für rechts- und menschenrechtswidrig und fordern daher einen grundsätzlichen Verzicht auf geschlechtsangleichende Operationen, außer in medizinischen Notfällen.
Eine pauschale Therapieempfehlung bei DSD gibt die BÄK in ihrer Stellungnahme nicht und begründet dies mit dem Fehlen entsprechender Studien. Hier bestehe großer Forschungsbedarf, bis eine evidenzbasierte Therapieempfehlung möglich sei. Um eine bessere Versorgung zu gewährleisten, sollen spezialisierte, interdisziplinär zusammengesetzte Kompetenzzentren gebildet werden. Immerhin stellt die BÄK zumindest fest, dass bei Neugeborenen „in der Regel keine chirurgische Therapie des Genitales indiziert“ sei. Zudem soll beim nicht-einwilligungsfähigen Kind „die Indikation zu operativen Maßnahmen äußerst restriktiv gestellt werden“. Lediglich bei Symptomen mit Krankheitswert, wie Harnverhalt oder Harnwegsinfekten durch Mündungsenge der Harnröhre bzw. des Sinus urogenitalis, sei eine sofortige Behandlung angezeigt. Medizinische Fachgesellschaften waren da bisher anderer Meinung: Tatsächlich sieht zwar auch die Deutsche Gesellschaft für Kinderheilkunde und Jugendmedizin (DGKJ) in der Regel keine Indikation für eine chirurgische Therapie im Neugeborenenalter. Allerdings gab sie in ihrer jüngsten Leitlinie die Empfehlung von ESPE und LWPES wieder, bei einer Entscheidung für das weibliche Geschlecht eine frühzeitige Feminisierungsoperation im Alter von zwei bis sechs Monaten vorzunehmen. Bei einer Entscheidung für das männliche Geschlecht erfolge eine Maskulinisierungsoperation von Kindern mit AGS in der Regel vor dem zweiten Lebensjahr. Ein wichtiger Punkt, der auch in der Stellungnahme der BÄK sowie der Leitlinie der DGKJ auftaucht, ist die Frage des Tumorrisikos. Manche Formen von DSD sind mit einem zum Teil deutlich erhöhten Tumorrisiko assoziiert, beispielsweise partielle Androgeninsensitivität (PAIS) mit nicht-skrotalen Gonaden sowie XY-Gonadendysgenesie mit intraabdominalen Gonaden. In diesen Fällen empfiehlt die BÄK eine regelmäßige Überwachung mit bildgebenden Verfahren – zu einer vorbeugenden Gonadektomie wird dagegen nicht pauschal geraten. Auch hier sind laut BÄK mehr Studien nötig, um für die verschiedenen DSD-Formen zuverlässige Aussagen zum Tumorrisiko und damit eine evidenzbasierte Therapieempfehlung treffen zu können.
Seit dem 01.11.2013 werden Kinder, deren Geschlecht weder eindeutig weiblich noch eindeutig männlich ist, ohne Angabe eines Geschlechts in das Geburtenregister eingetragen. Im Reisepass eines solchen Kindes steht dann X – es steht für „unbestimmtes Geschlecht“. Die jetzige Änderung des Personenstandsgesetzes basiert auf einer Empfehlung des Ethikrats aus dem Jahr 2012. Ziel war es, Druck von Eltern und Ärzten zu nehmen, um nicht vorschnell die für das Wohl des Kindes so wichtige Entscheidung in der Geschlechterfrage zu treffen. „Für Intersexuelle bedeutet das eine große Erleichterung, für unsere Gesellschaft eine wichtige Modernisierung“, erklärte die damalige Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP). Während Politik und Medien die Änderung des Personenstandsgesetzes als faktische Anerkennung eines dritten Geschlechts feierten, zeigten sich DSD/Intersex-Verbände allerdings wenig begeistert. „Der Druck auf Eltern, widerrechtlich in kosmetische Genitaloperationen für die betroffenen Kinder "einzuwilligen", wird sich erhöhen“, meint Daniela Truffer, Gründungsmitglied der Menschenrechtsgruppe Zwischengeschlecht.org. Durch das neue Gesetz würden die oft überforderten Eltern von DSD/Intersex-Kindern laut Truffer „zusätzlich damit konfrontiert werden, dass sie bei einem "solchen Kind" nicht einmal mehr ein Geschlecht eintragen lassen dürften – es sei denn, sie willigten zuerst in eine kleine Operation ein, nachher sei eine "Zuordnung" ja problemlos möglich“. Ähnlich sieht das auch die bundesdeutsche Vertretung der Internationalen Vereinigung Intersexueller Menschen. Sie wünscht sich statt einer stigmatisierenden Sondervorschrift für DSD/Intersex-Kinder, dass der Geschlechtseintrag einfach für alle offen gelassen wird. Das neue Gesetz wirft auch neue Probleme auf, denn bisher kennt die gesamte Rechtsordnung nur die Geschlechtskategorien Mann und Frau – Personen mit unbestimmtem Geschlecht sind vom Gesetzgeber nicht vorgesehen. Eine Eheschließung oder das Eingehen einer Lebenspartnerschaft beispielsweise ist Personen mit unbestimmtem Geschlecht zurzeit nicht möglich. Eine Rechtsreform, insbesondere des Verfassungs- und Zivilrechts, ist daher dringend erforderlich.
Betrachtet man DSD/Intersexualität als pathologischen Zustand, stellt sich die Frage, was denn das „richtige“ oder „wirkliche“ Geschlecht der erkrankten Person ist. Oberflächlich mag man dies mit dem Karyotyp beantworten, schließlich ist XY normalerweise männlich und XX weiblich. Genau genommen ist tatsächlich das weibliche Geschlecht der Entwicklungsstandard; wenn jedoch dank Y-Chromosom das SRY-Gen (sex-determining region on Y) exprimiert wird, bildet sich eine männliche Anatomie aus. Diese Vorstellung von einem genetisch klar definierten binären Geschlechtssystem ist jedoch zu einfach gedacht: Das SRY-Gen kodiert für den Transkriptionsfaktor TDF (testis-determining factor), der nach Komplexierung mit einem weiteren Transkriptionsfaktor (SF1) die Expression von SOX9 hochreguliert. Hohe SOX9-Spiegel in den Gonaden initiieren dann die Hodenentwicklung – weitere Faktoren wie FGF9 und PDG2 scheinen dabei eine wesentliche Rolle zu spielen. Ist aber beispielsweise das SRY-Gen oder die entsprechende regulatorische Sequenz des SOX9-Gens mutiert, bildet sich trotz Y-Chromosom das weibliche Geschlecht aus. Andererseits kann auch in Abwesenheit eines Y-Chromosoms und eines SRY-Gens das männliche Geschlecht ausgebildet werden, wenn die Expression des SOX9-Gens durch andere Mechanismen als die SRY-abhängige Transkriptionssteigerung hochreguliert wird. Und selbst wenn der komplexe SRY-Signalweg normal funktioniert, lässt der Karyotyp nicht immer auf das „richtige“ Geschlecht schließen, denn durch homologe Rekombinationen können Teile des Y-Chromosoms während der paternalen Meiose auf das X-Chromosom gelangen. In der Folge können XX-Nachkommen männlich sein (De la Chapelle Syndrom), und XY-Nachkommen weiblich (Swyer-Syndrom). Ebenso gibt es zahlreiche Umstände, unter denen das genetische Geschlecht nicht ausgeprägt wird, beispielsweise weil Rezeptoren insensitiv sind (partielle oder komplette Androgeninsensitivität, Mutationen im LH-Rezeptor-Gen) oder bestimmte Enzyme defekt sind (Adrenogenitales Syndrom, 5-Alpha-Reduktase-Mangel). Genetisches und körperliches Geschlecht sind also mitnichten immer identisch – und beide auf ein binäres System zu reduzieren, könnte mehr schaden als nützen.
Um die Verwirrung um die Geschlechterfrage komplett zu machen, gibt es neben dem genetischen und körperlichen Geschlecht auch noch das soziale Geschlecht bzw. die Geschlechtsidentität (gender). Die Frage, wie genetisches und körperliches Geschlecht mit dem sozialen Geschlecht wechselwirken, sorgt weiterhin für Diskussionen. Eine in den Neurowissenschaften populäre Theorie besagt, dass pränatal ausgeschüttete Hormone die Gehirnchemie prägen – ein Kind mit weiblichem Hormonsystem wird sich demnach später selbst als Frau identifizieren, unabhängig vom genetischen und körperlichen Geschlecht. Doch auch hier gibt es Ausnahmen: Wenn die eigene Geschlechtsidentität nicht mit dem bei der Geburt zugewiesenen Geschlecht übereinstimmt, spricht man von Transgender. Wenn Betroffene sich im falschen Körper gefangen fühlen und eine Anpassung des Körpers an ihre Geschlechtsidentität wünschen, spricht man von Transsexualität oder – um die Assoziation mit Sexualität und sexuellen Vorlieben zu vermeiden – von Transidentität. Wer sich dagegen nicht dem binären Geschlechtersystem unterwerfen will, bezeichnet sich beispielsweise als genderqueer, genderfluid, agender oder non-binary. Entscheidend dafür ist nicht, wie der Körper tatsächlich ausgestattet ist, sondern lediglich das Selbstempfinden. Das Grundrecht, selbst über den eigenen Körper zu bestimmen, darf niemandem genommen werden – erst recht nicht nur deshalb, weil dieser Körper nicht der gesellschaftlichen Norm entspricht.