Palliativmedizin wird oft als Aufgeben missverstanden. Ein Assistenzarzt bricht auf Twitter eine Lanze für die Behandlung scheinbar aussichtsloser Fälle und stellt klar: Auch das ist „ein Kampf um das Leben.“
Die sozialen Medien sind Orte, an denen sich Mediziner, genau wie andere Berufsgruppen, über ihre Erfahrungen austauschen und Gedanken zu bestimmten Themen äußern können. Eines dieser Themen, mit dem die meisten anderen Berufe eher selten zu tun haben, ist der Tod.
Über die Graustufen zwischen Maximaltherapie und Palliativmedizin schreibt Assistenzarzt JoStowasser in seinem Twitter-Thread: „Viele Menschen haben Angst vor dem Tod. Ich auch. Und deswegen wollen viele Menschen, wenn sie nach ihren Behandlungswünschen gefragt werden, eine Maximalbehandlung bis zum Äußersten. So weit, so normal.“
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„Warum reagieren wir Mediziner*innen dann manchmal skeptisch, wenn ein sehr betagter, mehrfach vorerkrankter Mensch selbst (oder durch Angehörige) wünscht, dass wir Therapien bis zum Äußersten, also Intensivstation, Beatmung, Dialyse, ECMO, Reanimation eskalieren? Das liegt nicht daran, dass wir nicht allen eine faire Chance gönnen. Und auch nicht daran, dass uns ältere Menschen mit vielen Vorerkrankungen egal wären. Im Gegenteil, viele von uns widmen den Großteil ihres Berufslebens dieser Patient*innengruppe.“
„Sondern es liegt daran, dass wir vor einer Sache noch mehr Angst haben als vor dem Tod, nämlich vor einem qualvollen Hinauszögern des Todes. Denn, und das kann sich glaube ich niemand ohne Erfahrungen mit Intensivmedizin vorstellen: Maximaltherapie ist ein anstrengender Kampf.“
Es sei ein Kampf für das Personal, aber vor allem für die jeweiligen Patienten und Angehörigen. Und das sei häufig sinnvoll. Aber manchmal stehen durch hohes Alter und viele Vorerkrankungen die Chancen so schlecht, dass man als Arzt Angst habe, ob Kampf die richtige Wahl sei. „Wir können nicht in die Glaskugel schauen. Leider können wir nicht exakt sagen, wann es noch eine kleine Chance gibt, und wann keine mehr. Wir können nur Wahrscheinlichkeiten und Erfahrungen zusammensetzen und damit den möglichen Verlauf abschätzen. Eine Unsicherheit bleibt oft.“
Das sei sehr schwierig, denn: Was ist die Alternative zur Maximaltherapie? Im Extremfall Palliativmedizin, aber es gebe noch ganz viele Graustufen dazwischen. Auch ohne Intensivmedizin böten sich gute, wenn auch limitierte Behandlungsoptionen. Der Assistenzarzt schreibt weiter: „Aber sprechen wir mal über Palliativmedizin: Ein Angstwort. Mit der Angst vor dem Sterben eng verwoben. Klingt nach Aufgeben. Aber so ist das gar nicht. Palliativmedizin ist einfach gesagt das Verringern von Leiden und das Zurückgeben von Lebensqualität. Dabei wird sich an Symptomen orientiert, und weniger an der dauerhaft heilenden Behandlung der Ursachen. Es gibt Menschen, die schwer krank mit einem guten Palliativkonzept noch Monate leben, bei vorübergehend wieder gesteigerter Lebensqualität.“
Und auch in den letzten Stunden eines Lebens könne Palliativmedizin für Patienten und Abschied nehmende Angehörige eine friedliche, schmerzlose, würdevolle Situation schaffen, die alleine durch die Umgebung auf einer Intensivstation nie möglich sei. Seine Gedanken fasst der Mediziner schließlich so zusammen: „Ich kann hier keine Einzelfälle besprechen. Aber grundsätzlich glaube ich, dass wir mehr vermitteln müssen, dass Intensivmedizin ein schwerer Weg für Patient*innen ist, auch wenn die Antwort „Bitte machen Sie alles“ erst einmal die einfachere ist.“
„Und wenn es Chancen gibt, lohnt sich dieser Weg natürlich. Sonst hätten wir ja keine Intensivmedizin. Aber es gibt Punkte im Leben, da will es gut überlegt sein. Am besten bevor die Entscheidung notfallmäßig getroffen werden muss (Stichwort Patient*innenverfügung). Gleichzeitig sollten wir die Angst vor Palliative-Care nehmen. Gute Palliativmedizin ermöglicht häufig in schwierigen Situationen überraschend würdevolle, schmerzarme und für alle Beteiligten weniger belastenden letzte Lebensstunden, -wochen oder auch -monate.“
Die beiden Gegensätze macht JoStowasser nochmal deutlich: „Intensivmedizin ist das maximale was wir können, das Abbild der Leistungsfähigkeit der Medizin, ein faszinierender, oft erfolgreicher Kampf für das Leben mit allen Mitteln. Mit tollen Ergebnissen für ganz viele Patient*innen – leider nicht für alle.“
„Palliativmedizin wird häufig als Aufgeben missverstanden, dabei ist auch sie ein Kampf um das Leben, aber eher um die Qualität des Lebens in Akzeptanz des nicht anwendbaren Todes.“ Und er bittet schließlich seine ärztlichen Kollegen auf Twitter: „Nehmt diesem Wort den Schrecken.“
Zum Account von Assistenzarzt JoStowasser kommt ihr hier.
Bildquelle: krakenimages, Unsplash